„W enn du nun mit Christo Eins bist, was willst du mehr haben?“, so heißt es in Martin Luthers Schrift „Vom wahren Christentum“. Dass ein katholischer Christ den Reformator Luther zitiert, wäre vor hundert Jahren, zum 400. Jahrestag der Reformation, noch undenkbar gewesen. Lange Zeit wurde auf katholischer Seite ausschließlich abwertend über Luther geschrieben. Sein Wirken habe maßgeblich zur Spaltung der abendländischen Kirche geführt, da war man sich einig. Auch für die vielen Verletzungen und das einander zugefügte Leid, besonders infolge der Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, war der Schuldige in Martin Luther und seinen Mitstreitern gefunden. Durch die Verbreitung seiner 95 Thesen zum Ablass habe Luther Zwietracht und Streit gesät. Solche Verurteilungen und Polemiken kennzeichneten das katholische Bild des Wittenberger Reformators. Ein Wandel trat erst mit der Lutherforschung des 20. Jahrhunderts ein. Die intensive Erforschung der Kirchen- und Reformationsgeschichte trug maßgeblich zu einer historisch-nüchternen Betrachtung der Geschehnisse des 16. Jahrhunderts bei. Vor allem die Erkenntnis, dass Luther tief in der Frömmigkeit und Mystik seiner Zeit verwurzelt war, leitete einen Prozess des Umdenkens in der katholischen Welt ein. Luther zielte ja nicht die Spaltung der Kirche an, sondern wollte mit seinen Reformbestrebungen auf Missstände aufmerksam machen, die die Botschaft des Evangeliums verdunkelten. Nach 50 Jahren gemeinsamen ökumenischen Dialogs ist es auch für einen katholischen Christen möglich, Texte Luthers mit Anerkennung zu lesen und von seinen Gedanken zu lernen. Diese Entwicklung ist nicht hoch genug zu schätzen.
Kommen wir also zurück zum Zitat: „Wenn du nun mit Christo Eins bist, was willst du mehr haben?“ Für Martin Luther steht das Einssein mit Christus, das Sich-hineinnehmen-lassen in die Lebensgemeinschaft mit dem Herrn, über allem. Darin findet alle menschliche Sehnsucht ihre tiefste Erfüllung. Diese Einsicht bildet den Kern von Luthers Denken. Es ist dies ein gemeinschaftsstiftendes Zitat, denn die Überzeugung, dass das Einssein mit Christus das höchste Gut des Menschen ist, verbindet alle Christen unabhängig von ihrer konfessionellen Zugehörigkeit. Jesus Christus ist der Grund und das Ziel unseres Lebens, zu ihm sind wir alle gemeinsam unterwegs.
„Wir leben immer noch in getrennten Kirchen.“
Bei aller Freude über die positiven Entwicklungen in den letzten Jahren und über die Erkenntnis, dass uns der Glaube an Jesus Christus eint, dürfen wir aber nicht vergessen, dass uns die volle Einheit untereinander noch nicht geschenkt ist: Wir leben immer noch in getrennten Kirchen. Diese Tatsache schmerzt, widerspricht sie doch zutiefst dem Willen Christi, der um die Einheit der Seinen gebetet hat: „Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast“ (Joh 17,21). Wir dürfen daher nicht nachlassen in unseren Bemühungen um die sichtbare Einheit der Kirche. Mit Luthers Zitat verbinde ich deshalb die Hoffnung, dass wir im Streben nach der Einheit mit Jesus Christus nicht nur ihm näherkommen, sondern uns auch untereinander tiefer verbinden. Einssein mit Christus und Einssein in Christus gehören zusammen. So kann das Reformationsjahr 2017 auch für die katholische Kirche eine Herausforderung sein, Christus noch stärker in den Mittelpunkt zu stellen.
Und es sollte Anlass sein zu einer immer engeren Zusammenarbeit zwischen den christlichen Konfessionen im Blick auf eine durch Säkularisierung geprägte Gesellschaft. Der Glaube an Gott ist nicht selbstverständlich. Umso entscheidender ist es, dass Christen gemeinsam die Frohe Botschaft verkünden, um so Menschen in ihren vielfältigen Lebensgeschichten in Berührung mit dem Evangelium zu bringen. Gleichzeitig führt das Miteinander der Kirchen zu einem glaubwürdigeren Zeugnis in der Gesellschaft, sodass ihre Stimme besser gehört wird, wenn sie sich für die Menschen einsetzen und ungerechte Strukturen in Gesellschaft, Politik und Miteinander anprangern.
50 Jahre ökumenischer Dialog machen es möglich, katholischerseits mit anderen Augen auf die Ereignisse des 16. Jahrhunderts zu blicken. Auch für die katholische Kirche ist der 500. Jahrestag der Reformation im Jahre 2017 ein wichtiges Datum, das wir nicht ignorieren wollen. Die ökumenische Verbundenheit wird sich auch darin bewähren. Wir werden noch mehr voneinander verstehen und den Schmerz der Trennung nicht übertünchen. Meine Hoffnung ist es, dass das Reformationsgedenken uns weiterbringt hin zur vollen sichtbaren Einheit der Kirche. Dabei kann uns das Wort Martin Luthers, das heute noch genauso aktuell ist wie vor 500 Jahren, den Weg weisen: All unser Denken, Tun und Handeln soll dazu führen, dass das Einssein mit Christus über allem steht.
Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 01/2015 erschienen.