Freiheit in geregeltem Raum erlernen

Politische Bildung – ein historischer Abriss

Das heutige Verständnis von politischer Bildung beruht auf dem Erziehungsideal der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. John Locke sprach bereits im 17. Jahrhundert von dem „Naturzustand“ der bürgerlichen Freiheit. Demnach ist der Mensch ein Wesen, das von Natur aus für ein gemeinschaftliches Zusammenleben geschaffen sei. Dieses müsse durch einen „Gesellschaftsvertrag“ geregelt werden. Jean-Jacques Rousseau ging davon aus, dass bereits in der Natur gemeinsame Regeln vorgeschrieben sind, aus denen gleichsam eine „eingezäunte“ oder eine „geregelte Freiheit“ resultiere, in der sich jeder Einzelne frei entwickeln könne, solange er die Freiheit des anderen nicht beeinträchtige. Die Erziehung zur Mündigkeit dient als Rahmen, um sich im entsprechenden Freiheitsraum bewegen zu können. Folglich muss jeder Mensch dazu durch Erziehung befähigt werden. Ausgehend von Immanuel Kants Forderung nach der Erziehung zum „mündigen Bürger“, dem Aufbegehren gegen die ständische Obrigkeit und der Forderung nach Individualismus und Selbstbestimmung begann die bürgerliche Emanzipation, die die Grundlage für die Entwicklung unseres heutigen Verständnisses von politischer Bildung bildet.

 

Bis ins 18. Jahrhundert wurden Kinder und Jugendliche als unvollständige Erwachsene betrachtet. Erst mit dem Aufkommen der Aufklärung ist die Kindheit als eigene Lebensphase entdeckt worden, die mithilfe der Erziehung die bestmögliche Entwicklung des Individuums und jene der bürgerlichen Gesellschaft garantieren wollte. In Kindern und Jugendlichen stecke von Natur aus die Veranlagung zum vollkommenen Menschen bzw. Bürger. Die Kinder und Jugendlichen müssten aber zuerst entsprechend „zugerichtet“, d. h. erzogen werden, um schließlich in vollendeter Form Teil der bürgerlichen Gesellschaft zu sein. Dem Gehorsam der Kinder wurde ein sehr hoher Stellenwert eingeräumt. Gerade aus diesem Ansinnen heraus resultiert eine – auch heute noch existierende – Ambivalenz des Begriffs politische Bildung, da sie bis Mitte des 20. Jahrhunderts immer wieder zu Indoktrination und der Schaffung von braven Untertanen instrumentalisiert worden ist.

 

Um 1800 war die Orientierung an der Erziehung zur Mündigkeit in der pädagogischen Diskussion und Praxis zentral. In Frankreich hat sich bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein fortschrittlicher Diskurs entwickelt. In Deutschland strebte die Strömung des Neuhumanismus – beeinflusst durch Wilhelm von Humboldt – die „allgemeine Menschenbildung“ an, deren Ziel die Schaffung des „wahren Menschen“ war. Die Forderungen waren, Bildung als Selbstzweck des Individuums zu verstehen, die Einführung eines Einheitsschulwesens und die Aufhebung der ständischen Bildungsgrenzen.

 

Seit den 1830er Jahren verlagerte sich die „Menschenbildung“ zusehends auf die instruktive Ebene und die indoktrinäre und manipulative Komponente verstärkte sich. Mithilfe der „Bürger- oder Staatsbürgerkunde“ und der „Vaterlandskunde“ sollten die Grundsätze der bürgerlichen „Zivilisation“ in das kollektive und damit auch in das individuelle Bewusstsein eingeschrieben werden. Diese Form der staatsbürgerlichen Kunde entwickelte sich in Deutschland und der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert und entsprach keineswegs dem aufgeklärten Ideal der Selbstbestimmung. Zunehmend wurde die Liebe zum Vaterland und die Erziehung zum braven Staatsbürger in den Mittelpunkt des Unterrichts gerückt. Durch dieses Bekenntnis zu Staat und Nation konnten zumindest oberflächlich die gesellschaftlichen und politischen Gegensätze verdrängt werden. Gleichzeitig ist aber dadurch der Boden für die nachfolgenden faschistischen und autoritären Erziehungskonzepte des 20. Jahrhunderts aufbereitet worden. Im Deutschen Kaiserreich ist die Betonung der Treue und Loyalität zum Vaterland in den »Allgemeinen Bestimmungen betreffend das Volksschul-, Präparanden- und Seminarwesen« seit 1872 verbrieft. Die „Allerhöchste Ordre“ von Wilhelm II. aus dem Jahr 1889 legte den Grundstein für das eigenständige Fach „Staatsbürgerkunde“ an höheren Schulen in Preußen im Jahr 1911. Bedingt wurde diese Entwicklung auch durch das 1871 eingeführte allgemeine Wahlrecht für Männer, wonach eine „Unterweisung der Wahlberechtigen“ stattfinden musste. In der Habsburgermonarchie waren die Entwicklungen ähnlich. Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht durch das Reichsvolksschulgesetz von 1869 und dem Männerwahlrecht 1907 gewann die Diskussion um eine Bürger- und Staatskunde zunehmend an Bedeutung. 1908 kam es schließlich zur Implementierung des Faches »Bürgerkunde« in der gymnasialen Oberstufe. Sowohl in Deutschland wie auch in Österreich stand wiederum die Bindung an die Nation im Vordergrund. Die Auseinandersetzung mit politischen Problemen im Unterricht fand nicht statt bzw. aktuelle politische Themen wurden ignoriert.

 

In der Zwischenkriegszeit verliefen die Entwicklungen in Deutschland und Österreich ähnlich. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde zumindest über eine inhaltliche Neuorientierung der politischen Bildung der Bürger diskutiert. Relativ schnell schlossen sich die Länder aber wieder patriotistisch-nationalistischen Denkkonzepten an, die sowohl im Fortwirken bildungspolitischer Traditionen als auch im Bedeutungsgewinn autoritärer und faschistischer Ideologien begründet liegen.

Im Nationalsozialismus und während der Zeit des Zweiten Weltkrieges fand die politische Instrumentalisierung des Schulbereichs ihren Höhepunkt. Nahezu alle Fächer des schulischen Fächerkanons sind für die politische Indoktrinierung der Schüler missbraucht und Politik und politische Propaganda auf das Engste mit Schule verwoben worden. Während der NS-Zeit kam es zu einer Überbetonung des Nationalen. Die körperliche Ertüchtigung und – wie Adolf Hitler es in „Mein Kampf“ schon schrieb – das „Heranzüchten kerngesunder Körper“ sowie die Zurückdrängung der intellektuellen Ausbildung stellten die Grundpfeiler für das nationalsozialistische Erziehungsideal dar. Der nationalsozialistische Staat kann daher als Erziehungsstaat charakterisiert werden. Jeder gesellschaftliche Bereich war von der nationalsozialistischen Ideologie durchdrungen. Dies schloss auch vermeintlich private Bereiche wie Arbeit oder Freizeit mit ein.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges stand der gesamte Bildungsbereich vor einem Trümmerfeld. Die Politische Bildung war schwerstens korrumpiert.

 

Nach 1945 gab es bezogen auf Deutschland und Österreich divergierende Entwicklungen. Bereits am 2. August 1945 beschlossen die Besatzungsmächte im Potsdamer Abkommen, dass Deutschland mithilfe des Erziehungswesens demokratisiert werden sollte und verordneten umfassende Re-Education-Maßnahmen. Dieser Verpflichtung ist es geschuldet, dass sich sowohl die wissenschaftliche Disziplin als auch das eigenständige Unterrichtsfach „Politische Bildung“ in Deutschland sehr früh entwickeln konnten. Österreich hingegen berief sich auf die Moskauer Deklaration von 1943 und verstand sich als erstes Opfer des Nationalsozialismus. Aus diesem Grund wurde die Aufarbeitung der unmittelbaren Vergangenheit im (Geschichts-) Unterricht als nicht notwendig erachtet. Politische Bildung fand – wenn überhaupt – dann nur ganz klassisch als Institutionen- und Staatsbürgerkunde statt. Der Opfermythos wurde bis weit in die 1980er Jahre gehegt. Erst durch die sogenannte Waldheim-Affäre im Jahr 1986 und die Wahl von Jörg Haider zum Bundesparteiobmann der Freiheitlichen Partei im selben Jahr kam Bewegung in die öffentliche Debatte und somit auch in die politische Bildung.

 

In der Bundesrepublik ist bereits 1946 das Fach „Sozialkunde“ in Hessen eingeführt worden. Seit den 1960er Jahren gibt es ein solches in allen deutschen Bundesländern, wenn auch mit unterschiedlichen Fachbezeichnungen. Parallel dazu entwickelten sich die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen wie Politikwissenschaft, Zeitgeschichte und Politikdidaktik. Die Politikdidaktik stellte in Deutschland von Beginn an einen wesentlichen Bestandteil in der Ausbildung von Politiklehrern dar und war institutionell an Universitäten und Hochschulen verankert. Den ersten Lehrstuhl für Politikdidaktik in Österreich hat es im Vergleich dazu im Jahr 2008 gegeben. Ein Jahrzehnt später hat sich die Zahl nicht erhöht. Ein eigenständiges Fach Politische Bildung gibt es bis heute nicht für alle Schultypen, sondern meist wird politische Bildung als Kombinationsfach mit z. B. Geschichte, Geografie oder Recht unterrichtet. Auch in der Lehrerausbildung spielt politische Bildung in Österreich immer noch eine sehr bescheidene Rolle. Diese Defizite lassen sich durch die Entwicklungen nach 1945 begründen. Dennoch hat es die politische Bildung in Deutschland nach 1945 auch nicht immer leicht gehabt. Sie geriet in den 1960er und 1970er Jahren immer wieder in den Einflussbereich der unterschiedlichen politischen Lager. Mit dem sogenannten Beutelsbacher Konsens von 1976 gelang es der Politikdidaktik, die politische Polarisierung und Einflussnahme zu überwinden. Der Konsens beruht auf den drei Prinzipien: Überwältigungsverbot, Kontroversitätsgebot und dem Gebot der Vermittlung von Analysefähigkeiten und operationalen Fähigkeiten. Mehr als 40 Jahre nach seiner Entstehung ist der Konsens auch heute noch gültig und ist ein zentrales Dokument der Politikdidaktik.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2018.

Cornelia Klepp
Cornelia Klepp ist Erziehungswissenschaftlerin und Hochschulprofessorin an der Pädagogischen Hochschule Kärnten .
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