Ideen der Demokratisierung nach 1945

Neues Forschungsprojekt zur Geschichte der politischen Bildung

Die Erforschung der NS-Vergangenheit von Ministerien und Bundesbehörden hat im vergangenen Jahrzehnt einen beispiellosen Boom erlebt: Beginnend mit der 2005/06 vom Auswärtigen Amt berufenen Historikerkommission haben inzwischen fast alle Bundesministerien entsprechende Forschungsaufträge erteilt. Dahinter steht nicht nur ein Interesse am Verhalten dieser Institutionen zur Zeit des Dritten Reiches, sondern mindestens ebenso sehr an ihrem Agieren in der jungen Bundesrepublik. Personelle Kontinuität war fast überall die Regel: Beim Bundesnachrichtendienst wie beim Verfassungsschutz und in einigen Ministerien der Ära Konrad Adenauer lag der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder sogar über den Vergleichswerten aus der Zeit vor 1945. Wenn also die Bundesrepublik in nicht geringem Maße von früheren Nationalsozialisten mitaufgebaut wurde – wie konnte dann die Demokratie ungeachtet aller personellen und mentalitätsgeschichtlichen Kontinuitäten gelingen? Was machte die Anziehungskraft des neuen Systems aus?

Dies ist auch das Thema eines neuen Forschungsprojekts zur Geschichte der politischen Bildung an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Es begreift politische Bildung im Zeitraum von 1945 bis 1976 als Querschnittsthema, das einen integralen Zugriff auf Behörden, Institutionen, Personen, Ideen und Praktiken ermöglicht. So geraten nicht nur Transformations- und Lernprozesse in den Blick, sondern auch das Verhältnis zwischen neugegründeten Institutionen und Politik, Bildungspraxis und den sich ausdifferenzierenden akademischen Disziplinen der Zeitgeschichtsschreibung und der Politikwissenschaft.

Das Besondere am Thema „politische Bildung“ ist seine aufschließende Funktion: Akteure der politischen Bildung waren (und sind) zur Reflexion darüber gezwungen, was Demokratie sein soll, wie eine demokratische Ordnung gelingen kann und welchen Anteil ihre eigene Arbeit daran hat. Darin liegt ein wichtiger Unterschied zur sogenannten Behördenforschung, weil im Alltagsgeschäft von Staatssekretären und Ministerialbeamten nur selten Gelegenheit für derart grundlegende Reflexionen war. Anhand der politischen Bildung soll also auch ein intellektueller Selbstfindungsprozess rekonstruiert und gleichzeitig deutlich gemacht werden, mit welchen Praktiken er verknüpft und in welche internationalen Strömungen er eingebettet war.

Das von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien im Programm „Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus“ finanzierte Projekt umfasst drei Einzelstudien. Sie widmen sich der Institutionengeschichte der Bundeszentrale für politische Bildung, fragen daneben aber auch nach den konkreten Praktiken der Bildungsarbeit, nach ihren Inhalten und Kooperationsformen auf nachgeordneter Ebene. Dazu dienen zwei Regionalstudien: In West-Berlin gab es eine besondere Konstellation schon aufgrund der symbolischen Bedeutung der geteilten Stadt im Kalten Krieg und durch den alltäglichen Umgang mit der Systemalternative. Demgegenüber verwiesen die Akteure in Baden-Württemberg immer wieder auf liberale Demokratietraditionen im deutschen Südwesten.

Erst am regionalen Fallbeispiel kann genauer gezeigt werden, wie Akteure in Parteien und Gewerkschaften, in den Kirchen, an den Universitäten, in den Medien, an Volkshochschulen und Akademien miteinander kooperierten und mitunter auch gegeneinander arbeiteten. In Baden-Württemberg war politische Bildung eben nicht nur das, was in Stuttgart erdacht oder von Politikwissenschaftlern wie Theodor Eschenburg in Tübingen oder Arnold Bergstraesser in Freiburg darunter verstanden wurde. Dazu gehörte von Anfang an auch das Engagement von engagierten Laien wie Otl Aicher und Inge Aicher-Scholl, deren intellektuelle Suchbewegungen in Ulm zunächst zur Gründung einer Volkshochschule und bald danach zu dem Versuch führten, das Bauhaus – angepasst an neue Bedingungen – wiederaufleben zu lassen.

In West-Berlin demonstrierte die neugegründete Deutsche Hochschule für Politik, dass es unter dem Einfluss engagierter Remigranten und mit Unterstützung durch die westlichen Alliierten nicht beim Wiederanknüpfen an Weimarer Traditionen blieb: Aus einer Einrichtung der Erwachsenenbildung entwickelte sich bald das politikwissenschaftliche Institut der Freien Universität, das im Laufe der 1960er Jahre zu einem Zentrum der Studentenbewegung werden sollte. Dieser Umbruchszeit wird das Projekt insgesamt besondere Aufmerksamkeit widmen, zumal über die Institutionen der politischen Bildung in den 1960er und 1970er Jahren bis dato noch keinerlei quellengestützte Arbeiten vorliegen. Dabei gilt es nicht zuletzt, die maßgeblich von einstigen Akteuren verbreiteten Deutungen zu hinterfragen, die eine politikdidaktisch begründete Erfolgsgeschichte von Emanzipation und innerer Demokratisierung erzählen.

Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2018.

Tim Schanetzky
Tim Schanetzky lehrt als Privatdozent Neuere und Neueste Geschichte in Jena und leitet das Forschungsprojekt gemeinsam mit Professor Norbert Frei.
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