Bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe von Politik & Kultur begannen gerade einmal die Sondierungsgespräche zwischen CDU, CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen – der Ausgang: noch vollkommen offen. Gut drei Wochen haben sich die potenziellen Koalitionäre Zeit gelassen, bis nach der Bundestagswahl am 24. September die ersten Gespräche aufgenommen wurden.
Doch worauf wird es in der 19. Wahlperiode, in einem Deutschen Bundestag, dem sieben Parteien, sechs Fraktionen und zwei fraktionslose Abgeordnete angehören, kulturpolitisch ankommen? Die rechtsextreme AfD zieht mit mehr als 90 Abgeordneten in den neuen Bundestag ein. Das bereits vor der Konstituierung des neu gewählten Deutschen Bundestags zwei AfD-Abgeordnete ihre Fraktion verlassen haben, ist dabei ein Novum. Dennoch, wer zurückblickt auf die Zusammensetzung der Deutschen Bundestage stellt fest, dass gerade den ersten drei Deutschen Bundestagen verschiedenste radikale Parteien angehörten, die teilweise dem linken Spektrum wie KPD oder dem rechten Spektrum wie BHE, der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten, angehörten. Erst ab dem 4. Deutschen Bundestag (Wahlperiode 1961 bis 1965) hatte sich ein Dreifraktionenparlament aus CDU/CSU, SPD und FDP, weitgehend in der Mitte, ausgemendelt. Bis zum Einzug der Grünen in den Deutschen Bundestag bei der Wahl zum 10. Deutschen Bundestag (Wahlperiode 1983 bis 1987) hatte sich diese Dreierstruktur erhalten. Mit der Wahl des 12. Deutschen Bundestags (Wahlperiode 1990 bis 1994) kam mit der PDS, später Die Linke, eine neue Fraktion hinzu. Nachdem dem 18. Deutschen Bundestag (Wahlperiode 2013 bis 2017) vorübergehend vier Fraktionen angehörten, da die FDP den Einzug nicht geschafft hatte, gehören dem 19. Deutschen Bundestag (Wahlperiode 2017 bis 2021) sechs Fraktionen an. Die AfD inzwischen in 14 von 16 Landtagen vertreten, hat sehr deutlich den Sprung auch in den Deutschen Bundestag geschafft.
Also, nur nicht aufregen? Alles schon einmal dagewesen? Ja, in den ersten Deutschen Bundestagen saßen eine Reihe von Abgeordneten, an deren demokratischer Haltung durchaus Fragezeichen zu setzen sind. Ja, nach zwölf Jahren Faschismus und einem verheerenden Krieg galt für viele überhaupt demokratiefähig zu werden und einen herrschaftsfreien Diskurs zu führen. Doch liegen diese Zeiten zum Glück weit zurück. An die Abgeordneten des 19. Deutschen Bundestags muss daher die Anforderung gestellt werden, dass sie sich auf dem Boden des Grundgesetzes bewegen und sich jeglichen rassistischen, diffamierenden, herabsetzenden Äußerungen enthalten. Streit in der Sache ja, Rechtsradikalismus nein. Hier sind alle Abgeordneten des Deutschen Bundestags gefragt, dem entgegenstehenden Haltungen und Positionen entschieden zu begegnen.
Die neue Bundesregierung und der Deutsche Bundestag haben eine Fülle an Themen zu beraten. Im Wahlkampf konnte teilweise der Eindruck entstehen, dass Flucht und Migration das beherrschende Thema der bundesdeutschen Politik sind und bleiben werden. Wir sind der festen Überzeugung, dass es zwar ein wichtiges, aber nicht das alles bestimmende Thema sein darf.
Deutschland als Land in der Mitte des europäischen Kontinents und in der Mitte der Europäischen Union gelegen, hat eine besondere Verantwortung für das Gelingen und die Weiterentwicklung des europäischen Einigungsprozesses. Die Aufnahme Deutschlands in die europäische Staatenfamilie zu einem Zeitpunkt, als die Wunden nach dem Krieg noch tief und offen waren, war ein Vertrauensvorschuss. Heute ist gerade für junge Menschen Europa zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Die Europäische Union weiterzuentwickeln, die Demokratie und Zusammenarbeit in Europa voranzutreiben, für Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union einzutreten, das sind Aufgaben, die jetzt anstehen. Das Europäische Kulturerbejahr 2018 wird die Gelegenheit bieten, herauszustellen, dass Migration zu Europa gehört und dass die europäische Kultur durch vielfältige religiöse und kulturelle Einflüsse geprägt ist.
Als im Jahr 1947 das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade, GATT) als völkerrechtlicher Vertrag zwischen 23 Gründungsmitgliedern geschlossen wurde, gehörte Deutschland naturgemäß nicht dazu, da die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik erst 1949 gegründet wurden. Doch bereits 1951 wurde die Bundesrepublik Vertragsstaat. Das GATT und später auch GATS (General Agreement on Trade in Services) zielten darauf ab, Handelshemmnisse und Zollschranken abzubauen, um so den weltweiten Waren- und Dienstleistungsaustausch zu fördern. Im Jahr 1995 wurde die Welthandelsorganisation gegründet. Seit dem Stocken der Doha-Runde Anfang dieses Jahrhunderts nehmen bilaterale und multilaterale Abkommen zu. Die EU verhandelt derzeit mit einer ganzen Reihe an Staaten Freihandelsabkommen.
In der neuen Wahlperiode wird es darauf ankommen, auf einen gerechten Welthandel zu drängen und in Brüssel hierauf hinzuwirken. Nur ein gerechter Welthandel, der den Ländern des Südens echte Marktzugangschancen bietet und sie nicht allein als Rohstofflieferanten sieht, wird Fluchtursachen bekämpfen können. In der „Unesco-Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“ aus dem Jahr 2007 ist formuliert, welche Anforderungen an einen gerechten Welthandel mit Kulturgütern und -dienstleistungen zu richten sind. Diese Konvention mit echtem Leben zu erfüllen, wird eine wichtige Aufgabe der neuen Wahlperiode sein. Im Netzwerk Gerechter Welthandel, dem der Deutsche Kulturrat angehört, werden wir unter anderem diese Themen erörtern.
Das Nachhaltigkeitsthema stärker aus kultureller Perspektive zu beleuchten zählt dazu. Dazu gehört einerseits z.B. die Kompetenz aus Architektur, Stadtplanung und Design stärker als Kulturkompetenz wahrzunehmen und andererseits Natur und Kultur weniger als Gegensatz als vielmehr aufeinander bezogen zu begreifen. Der Deutsche Kulturrat wird diese Fragen in der neu gegründeten adhoc-AG Nachhaltigkeit und in Zusammenarbeit mit anderen Verbänden wie dem BUND und dem Deutschen Naturschutzring debattieren.
In den Antworten der Parteien auf die Forderungen des Deutschen Kulturrates zur Bundestagswahl 2017 nahm das Thema Digitalisierung breiten Raum ein. Mit der FDP und Bündnis 90/Die Grünen werden zwei Parteien voraussichtlich der Regierung angehören, die sich dieses Thema schon lange auf die Fahnen geschrieben haben. Es wird nun darauf ankommen, zu verdeutlichen, dass Digitalisierung mehr als Breitbandausbau ist. Die Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft grundlegend. Bereits seit einigen Jahrzehnten findet diese zweite industrielle Revolution statt, die massive Auswirkungen auf die Arbeitswelt, auf die Medien, auf den Handel und anderes mehr hat. Einige Kulturbranchen haben die Umbrüche durch die Digitalisierung in den letzten Jahrzehnten existentiell erfahren. Bestehende Märkte und Verbreitungswege haben sich tiefgreifend verändert, Arbeitsplätze gingen verloren. Auch wenn in einigen Branchen von einer Stabilisierung gesprochen werden kann, sind die Umbruchprozesse noch mitten im Gange. Ablesbar ist dies unter anderem am erbitterten Kampf um die Präsenz von Inhalten öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten im Netz.
Der neue Deutsche Bundestag muss sich dieses Themas annehmen. Leider hat sich die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, die in der 17. Wahlperiode arbeitete, zwar viel vorgenommen, aber wenig konkrete konsensfähige Handlungsempfehlungen auf den Tisch gelegt. Der Deutsche Kulturrat wird in einer eigens eingerichteten adhoc-AG Digitalisierung eigene Vorschläge erarbeiten, was aus Sicht der Kulturverbände jetzt angegangen werden soll. Dabei kann auf eine Fülle an Stellungnahmen und Positionspapieren zurückgegriffen werden, die von den Fachausschüssen des Deutschen Kulturrates in den letzten Jahren vorbereitet und vom Sprecherrat verabschiedet wurden.
Im Mai dieses Jahres hat die Initiative kulturelle Integration ihre 15 Thesen zum Zusammenhalt in Vielfalt vorgelegt. Der Deutsche Kulturrat hat diesen Prozess initiiert und moderiert. Diese 15 Thesen wurden von einem breiten Bündnis von Institutionen, Organisationen und Verbänden erarbeitet. In der Präambel stellen die Mitglieder der Initiative kulturelle Integration heraus: „Integration betrifft alle Menschen in Deutschland. Gesellschaftlicher Zusammenhalt kann weder verordnet werden, noch ist er allein eine Aufgabe der Politik. Vielmehr können alle hier lebenden Menschen dazu beitragen. Deutschland ist ein vielfältiges Land. Seit Jahrhunderten leben hier Menschen aus vielen unterschiedlichen Ländern. Die Mehrzahl derjenigen, die aus dem Ausland nach Deutschland gekommen sind, fühlt sich hier zuhause, viele sind inzwischen Deutsche. Mit Solidarität haben Gesellschaft und Politik auf die Ankunft vieler Geflüchteter reagiert. Solidarität gehört zu den Grundprinzipien unseres Zusammenlebens. Sie zeigt sich im Verständnis untereinander und in der Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse anderer – wir treten für eine solidarische Gesellschaft ein.“
Mit der Vorlage der 15 Thesen endet die Arbeit der Initiative kulturelle Integration nicht. Es finden in den nächsten Monaten Veranstaltungen und Diskussionen statt, in denen die Thesen zur Diskussion gestellt werden.
Die kulturelle Bildung hat in den letzten Jahren eine verstärkte Aufmerksamkeit erhalten. Sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene wurden Programme an den Start gebracht, um die kulturelle Bildung insbesondere von Kindern und Jugendlichen zu stärken und mehr Kinder und Jugendliche zu erreichen.
Politische Bildung stand weniger im Rampenlicht, hier schien das Wichtigste erledigt zu sein. Die aktuellen Debatten und nicht nur das Ergebnis der Bundestagswahl haben gezeigt, dass dies ein Trugschluss war. Die politische Bildung sollte daher stärker mit der kulturellen Bildung verzahnt werden und neben Kindern und Jugendlichen auch Erwachsene in den Blick nehmen. Eine Vielzahl von Akteuren wie Volkshochschulen, Museen, Erinnerungsorte, Bibliotheken, soziokulturelle Zentren, Theater und andere mehr leisten hier auch in der Fläche bemerkenswerte Arbeit. Diese weiter zu stärken, strukturell jenseits von Projekten zu sichern und weiterzuentwickeln, wird die Aufgabe der Zukunft sein. Im kommenden Jahr findet nicht nur das Europäische Kulturerbejahr statt, es wird auch an das Ende des Ersten Weltkriegs zu erinnern sein. Im Jahr 2019 kann an 100 Jahre Weimarer Verfassung, 70 Jahre Gründung der Bundesrepublik und der DDR und 30 Jahre Mauerfall erinnert werden. An den letztgenannten Jubiläen wird sich zeigen, ob ein gemeinsames Narrativ des vereinten Einwanderungslands Deutschland bereits entstanden ist. Der Deutsche Kulturrat wird sich in diese Diskussionen einmischen.
Neben diesen herausgegriffenen Themen werden weitere von Bedeutung sein wie die soziale Sicherung von Künstlern, Fragen der Geschlechtergerechtigkeit im Kultur- und Medienbetrieb, der Kultur im ländlichen Raum, ein kulturfreundliches Steuerrecht, ein adäquates Urheberrecht, Fragen der Medienregulierung und vieles andere mehr. Es liegt viel Arbeit vor uns. Lassen Sie uns beginnen!