Unsere zweite Haut wird nachhaltig

"Grüne" Mode heute und morgen

Mode visualisiert und materialisiert seit jeher am schnellsten, wenn gesellschaftliches Fühlen, Denken und Handeln sich ändern. Dass dies seit der Jahrtausendwende eruptiv geschieht, liegt an der immer schnelleren Drehung der globalen und digitalen Welten.

 

Was ist passiert? Die Industrialisierung im letzten Jahrhundert hat Massenfertigung möglich gemacht und die Gier nach immer mehr entfacht. Eine Lifestyle-Welt des reinen Macht- und Profitdenkens, der Verkopfung, der Verschwendung und der Ressourcenvernichtung wurde etabliert. Eine der Folgen sind 100 Jahre geradezu tollwütiger Anhäufung von Billigkleidung, die als Wegwerfartikel endete. Etwa die Hälfte der Textilkäufe landet nach wie vor auf dem Müll und verschlingt jährlich ca. 460 Milliarden Dollar weltweit nach Berechnungen des Reports der Ellen MacArthur Foundation. Ein Teil davon landet in armen Ländern und nimmt durch Preisunterbietung der dortigen Bevölkerung das Brot.

 

In den 1990er Jahren erreichte der besinnungslose Konsum seinen Höhepunkt und seit 2000 kippt dieses System. Mensch und Natur arbeiten sich vor in die eigene Mitte und wehren sich gegen Ausbeutung und menschlichen Kahlschlag. Sehnsucht nach Ehrlichkeit, menschlichem Anstand, zugelassener Emotionalität, Liebe, Gefühl, Spiritualität, nach Achtung vor der Natur und nach Erhaltung unserer Ressourcen, nach Individualität und bewusster Entschleunigung bricht sich Bahn.

 

Auf diese Stimmungen in unserer Gesellschaft reagieren die Seismografen der Modedesignerinnen und -designer, indem sie neue Konzepte realisieren für nachhaltige Materialien, ökonomisches Handeln in der Kollektionsherstellung, ökologische Vorgehensweisen und für soziale Verhaltenskodexe in der Verarbeitung.

 

Der Wille und das Durchhalten für diese Konzepte wird getrieben von jungen Designlabels und immer mehr Menschen, die ihre Sehnsüchte laut aussprechen und bewusst einkaufen. So weiß ich von vielen gebildeten Eltern, die ihren Kindern kein Geld zur Verfügung stellen für Einkäufe im Textildiscounter Primark, weil sie wissen, dass die dort angebotene Ware auf Kosten der Menschen, oft Kinder, in den Billiglohnländern hergestellt wird.

 

Nicht die Formen verändern sich derzeit gravierend, sondern der Konsum und die Produktion stehen auf dem Prüfstand; das Material, dessen Herkunft und Aufbereitung, die Verarbeitung und die Bedingungen dafür.

 

Die öffentlich gestellten Fragen, ob Pestizide die Baumwollfelder auf ertragreiche Ernten trimmen und dabei alle Kleinsttiere vernichten, die Verarbeitung der Kokons kostbare Wassermengen verschwendet oder ob weniger nicht mehr wäre, führt zu der Forderung, wissen zu wollen, was wir in Zukunft als unsere zweite Haut tragen. Wollen wir dafür Tiere töten und Ressourcen wie Wasser und Erdöl anzapfen, aufbrauchen und die Erde verseuchen? Wir wollen wissen, woher die Materialien kommen und wie Schafe oder Ziegen gehalten werden, die uns ihre Wolle schenken; wir verfolgen das Wo und Wie der Produktion.

 

Die Vehemenz der gestellten Fragen und das Infragestellen der gewohnten Prozesse führte innerhalb weniger Jahrzehnte zu Zertifizierungseinrichtungen, wie Global Organic Textile Standard, kurz GOTS, und seit 2014 zum Bündnis für nachhaltige Textilien, eine Partnerschaft von rund 150 Unternehmen, Verbänden, Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und Standardorganisationen sowie der deutschen Bundesregierung. Gemeinsames Ziel ist, Verbesserungen entlang globaler Wertschöpfungsketten in der Textilindustrie durchzusetzen.

 

Ein extrem langsamer Prozess, der immer wieder stagniert, weil die Umwälzungen bei den Unternehmen Angst vor Verlusten und Unsicherheit in Bezug auf die Annahme durch die Konsumenten hervorrufen. Nachhaltigkeit kostet mehr und noch haben innerhalb des noch nicht abgelegten „Billig ist geil“-Denkens zu wenige Konsumenten die Kehrtwende so vollzogen, dass sie ausschließlich nachhaltige Textilien und Mode einkaufen.

 

Neben den sich schwerfällig bewegenden Firmen entstehen jedoch von unten her dynamisch betriebene Wertschöpfungen: Eine ganze Generation junger, nachhaltiger, zeitloser und langlebiger Labels werden geboren. Labeldesignerinnen und -designer sowie eine Handvoll gestandener Firmen gestalten kleine individuelle Kollektionen mit zertifizierten Materialien, die natürlich und chemisch unbedenklich sind. So z. B. aus Hanf und Bananenfasern wie bei Hess Natur, Flachs wie bei Living Crafts, Sojaseide aus Tofuabfällen, aus Milchseide, die aus den Kasein-Proteinen als Abfallprodukt aus 1,9 Milliarden Tonnen nicht verwendbarer Rohmilch entsteht, aus Bambus wie bei Braintree, aus Buchenholz wie beim Stoff Modal von Lenzing und aus Eukalyptus-Zellulose für Lyocell, aus Kapok-Kapseln der afrikanischen Baumfrucht, aus Kork wie bei den Produkten von Michael Spitzbarth von Bleed clothing, aus Lotusseide aus Burma (Loro Piana), aus Eier- und Krabbenschalen für Wohntextilien, aus Teeblätterfermenten, wie es Lisa Lang für lederartige Optiken nutzt, gewebte Pullis aus Brennnesseln, oder Schuhe aus Algen; sogar nicht mehr gebrauchte Bau-Tyvek-Membranen werden zu Outdoorbekleidung. Mais sollte weiter der Ernährung dienen und nicht als Biodiesel und Bekleidung missbraucht werden.

 

Diese Firmen und Newcomer tragen durch ihre „Slow-Fashion“ zur Entschleunigung des textilen Karussells bei. Sie stellen höchstens zweimal im Jahr eine neue Kollektion vor, die auf der vorherigen aufbaut, statt sich einem zwölfmonatigem Rhythmus inklusive Wegwerfdenken zu unterwerfen.

 

Sie kreieren Kollektionen, die sich recyceln lassen und in den Kreislauf der Erde zurückkehren können; sie upcyceln Produkte aus Weggeworfenem, wie Stofftaschen der Textilanbieter oder Plastikflaschen; sie gründen Repair Cafés, in denen Kaputtes repariert wird, wo wir das „wieder Ganz machen“ erlernen können. Sie entwickeln Universaldesign für eine Gesellschaft, die keinen Unterschied zwischen Minderheiten und dem Mainstream macht. Ihre neuen Secondhandläden machen Innenstädte liebenswert und nachhaltig.

 

Ein weiterer großer Schritt ist der Zusatznutzen für den Käufer. Der Mensch wird in den Mittelpunkt gestellt und nach seinem Bedarf gefragt. So entstehen die „Smart Textiles“, die unter anderem medizinische Substanzen oder digitale Elemente, die als Frühwarnsysteme für den Hausarzt dienen, in die Materialien oder die Outfits einschleusen.

 

Der Markt für nachhaltige Mode und Textilien wächst stetig und nimmt auch vertikale große Firmen mit, wie Hennes & Mauritz, Zara, Aldi, Lidl und Co, die neu überdenken, wen sie erreichen wollen. Der Weg zum mündigen Konsumenten und zum Verantwortung tragenden Hersteller ist weit geöffnet und mündet in den nächsten 50 Jahren in eine nachhaltige, liebens- und lebenswerte Zukunft.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 1/2018.

Mara Michel
Mara Michel ist Modedesignerin, Geschäftsführerin des VDMD, Netzwerk für Mode- und Textil-Designer sowie Vizepräsidentin des Deutschen Designtages.
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