Vom Todesstreifen zur Lebenslinie

Eine Arche für Flora, Fauna und Erinnerung

Die ehemalige innerdeutsche Grenze trennte Familien und Freunde, Landschaften, Städte und Dörfer. Der Natur bekam der martialische Eingriff weit besser als den Menschen. Im zweifelhaften Schutz von Stacheldraht, Wachtürmen und Grenzpatrouillen hatte sie eine 40-jährige Atempause. Zwischen den intensiv genutzten Äckern der westdeutschen Landwirte und den großflächigen Feldern der ostdeutschen Produktionsgesellschaften entstand so ein meist 100 Meter breiter, ungenutzter Bereich. Die Brachflächen des Grenzstreifens waren ein Rückzugsraum für über 1.200 gefährdete oder vom Aussterben bedrohte Arten. Das Grüne Band Deutschland erstreckt sich heute auf 1.393 Kilometern entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze vom Ostseestrand bei Lübeck bis zum Thüringer Wald und Frankenwald. Ein ganzer Fächer an Lebensräumen, die in der heutigen Kulturlandschaft kaum noch Platz finden, entfaltet sich zu einem hochkarätigen Naturerbe. Ins Leben gerufen wurde es unmittelbar nach der Wende vom BUND Naturschutz in Bayern (BN).

 

Ökologische Grenzgänge

 

Mein Lebensweg ist maßgeblich mit dem Grünen Band verbunden: Ich wuchs im oberfränkischen Landkreis Coburg nur wenige Hundert Meter von der innerdeutschen Grenze entfernt auf. Nur vom Westen aus war es für Naturschützerinnen und Naturschützer möglich, die Brachflächen der Grenzanlagen ohne Einschränkung und aus nächster Nähe einzusehen. 1975 begann ich meine Untersuchungen im Steinachtal, die später zum Anstoß für die Einbeziehung des DDR-Grenzstreifens auf rund 140 Kilometern Länge in das Untersuchungsgebiet einer großräumigen ornithologischen Kartierung im Landkreis Coburg durch den BN wurden. Über 40.000 von 1979 bis 1984 erhobene Einzeldaten dokumentierten eindrucksvoll, dass ausgerechnet der Todesstreifen der letzte Zufluchtsort für viele Arten, darunter seltene und bedrohte Vogelarten wie Braunkehlchen, Raubwürger, Ziegenmelker oder Heidelerche, war.

 

1989 – Geburtsstunde des Grünen Bandes

 

Als im November 1989 die Mauer fiel, war bei aller Erleichterung und Freude auch klar, dass sofort ein Signal für die bekannten Naturschätze im Schatten der verhassten Grenzanlagen nötig war. Mittlerweile war ich beruflich beim BN tätig. Auf Initiative von Hubert Weiger, heute Ehrenvorsitzender des BUND, erfolgte rasch eine Einladung zu einem deutsch-deutschen Naturschutztreffen am 9. Dezember 1989 in Hof. Gerade einmal 27 Anschriften hatten wir. Dank effektivem ostdeutschen Schneeballsystem kamen 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Über Jahrzehnte waren nur wenige Einzelkontakte zwischen den Naturschützerinnen und -schützern aus West- und Ostdeutschland möglich gewesen, argwöhnisch überwacht von der Staatspartei und der Stasi. Man verstand sich dennoch sofort. In einer tief bewegenden Atmosphäre entstand eine einstimmige Resolution, die Naturschätze im Bereich der innerdeutschen Grenze umgehend zu erhalten. Der Startschuss für das erste gesamtdeutsche Naturschutzprojekt war gefallen: das „Grüne Band“.

 

Die Resolution war Auslöser für zahlreiche einstweilige Sicherstellungen des Grenzstreifens und insgesamt 150 neue Naturschutzgebiete, die dank engagierter Naturschutzbehörden und Verbände vor allem in der ersten Hälfte der 1990er Jahre im und direkt am Grünen Band entstanden, insbesondere in Thüringen, Bayern und Sachsen.

 

Es war auch der Anfang einer inzwischen über 30-jährigen Lobbyarbeit des BUND, um inmitten des nun vereinten Deutschland auf 1.400 Kilometer einen einmaligen Biotopverbund zu erhalten. Begleitet wurde dies von einer bis heute ungebrochenen Medienresonanz, die ganz wesentlich dazu beitrug, gesellschaftliche Akzeptanz für die über fast vier Jahrzehnte entstandenen Lebensräume im Grenzbereich zu schaffen.

 

Ein Mahnmal gegen das Vergessen!

 

Das Grüne Band ist gleichzeitig Arche für bedrohte Arten und einmalige Erinnerungslandschaft an die Überwindung der deutschen Teilung. Es ist heute eine friedliche Spur in der Landschaft, die auch kommenden Generationen vermittelt, wo und in welchem Ausmaß einmal ein schrecklicher Riss durch dieses Land ging. 30 Jahre nach der deutschen Einheit sind inzwischen über 1.106 Kilometer des Grünen Bandes in Thüringen und Sachsen-Anhalt als Nationales Naturmonument ausgewiesen. Eine besondere Schutzkategorie, die dem Grünen Band als lebendiges ökologisches und kulturelles Denkmal gerecht wird. Die Ausweisung des gesamten Grünen Bandes Deutschland als Nationales Naturmonument wäre ein wichtiger Schritt, um das Grüne Band Europa auch als UNESCO-Weltnatur- und Kulturerbestätte zu nominieren. Hoffentlich kann es so auch als eine Vision für andere Grenzen auf der Welt dienen, die einem Miteinander von Mensch und Natur weichen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2020.

Kai Frobel
Kai Frobel ist Geoökologe und Naturschützer. Er gilt als der Vater des Grünen Bandes.
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