Kulturschulen

Auf dem Weg zu einer neuen Lernkultur

Einleitung
Kulturschulen wollen mehr als zeitlich begrenzte Kunstprojekte und regelmäßige Bühnenshows. Ihr Ziel ist es, ausgehend von den besonderen Erfahrungs- und Kommunikationsqualitäten ästhetisch-künstlerischer Praxis und kultureller Verständigungsprozesse, Kindern und Jugendlichen neue Bildungswege und eine teilhabegerechte Lernkultur zugänglich zu machen. Die Leitperspektive von Kulturschulen zielt auf das Recht aller Jugendlichen und Kinder auf vollen Zugang zum kulturellen Leben sowie eigene künstlerische und kulturelle Betätigung, wie es in § 31 der UN-Kinderrechtskonvention verbrieft ist (Bundeszentrale für politische Bildung (2004): Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen. S. 178).

 

Wenn von der Annehmbarkeit kultureller Angebote für Schulen die Rede ist, dann muss daher berücksichtigt werden, dass sich Handlungsstrukturen in einer Schule sowohl aus den jeweils gültigen Schulgesetzen bzw. Schulformen als auch aus ihren gesellschaftlichen Funktionen der Qualifikation, Sozialisation, Selektion, Allokation und Legitimation (vgl. Helmut Fend (1980): Theorie der Schule) ableiten. Genauso muss jedoch beachtet werden, dass jede Schule über eine eigene Schulkultur verfügt. Jede Einzelschule tritt in ihrer vielfältigen strukturellen und kulturellen Einbettung mit einer eigenen Schulidentität auf. Sie ist das Produkt einer aktiven, fortlaufenden Identitätsarbeit der schulinternen Akteure und realisiert sich über Haltungen, Mentalitäten, Werte, Arbeitsweisen und Strukturen. Die Aufgabe einer wirksamen Schulentwicklung ist es daher, gleichermaßen für die in der Schule handelnden Menschen und für die Institution selbst, Möglichkeiten der Selbstreflexion und Weiterentwicklung zu schaffen. Schulentwicklung bedeutet daher in diesem doppelten Sinne immer Identitätsbildung.

 

Die Antwort auf die Frage, wie die Voraussetzungen für die Annehmbarkeit von Kultureller Bildung an Schulen verbessert werden können, ist demnach unmittelbar an die Lernprozesse der jeweiligen Schulkultur gebunden. Dass dies die gesetzgebenden und steuernden Ebenen in den Ländern und Kommunen jedoch nicht davon entbindet, entsprechende Voraussetzungen für mehr Kulturelle Bildung an Schulen zu schaffen, verdeutlicht das Qualitätstableau für Kulturelle Schulentwicklung der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (www.kultur-macht-schule.de). Es bietet eine komprimierte Übersicht zu allen beteiligten Handlungsfeldern und Akteuren.

 

Kulturelle Bildung in der Schonraumfalle
Das Bemühen, die Erweiterung des schulischen Bildungsangebots durch kulturelle Bildungspartnerschaften nachhaltig abzusichern, zielt in der Praxis häufig auf eine Verzahnung, die eine friedliche Koexistenz der beiden Bildungswege ermöglichen soll. In diesem Umgang mit der Unterschiedlichkeit der beiden Bildungsformen liegt jedoch eine zentrale Barriere für die Entwicklung einer neuen Lernkultur in der Zusammenarbeit von Kultur und Schule. Im Sinne einer Integration eines willkommenen Anderen/Fremden, bemühen sich die Vertreterinnen und Vertreter der Schule in der Regel, temporäre Schonräume einzurichten, innerhalb derer ein künstlerisches Arbeiten der Kooperationspartner mit den Kindern und Jugendlichen ermöglicht wird. Dieses Einräumen von Sonderspielräumen bedeutet für die beteiligten Lehrerinnen und Lehrer, ihre unmittelbaren Kolleginnen und Kollegen und letztlich das gesamte System innerhalb der Schule eine erhöhte Anstrengung. Darüber hinaus beinhaltet dieser Umgang zugleich eine Unterscheidung zwischen den „zusätzlichen“ Kunst- und Kulturprojekten und der „eigentlichen“ Schulidentität. Die künstlerischen und kulturellen Lernräume bleiben auf diese Weise von den schulinternen Entwicklungsprozessen strukturell getrennt. Eine verbesserte Annehmbarkeit von Kultureller Bildung an Schulen verlangt daher einen grundlegenden Perspektivenwechsel: Die Bedeutung der ästhetisch-künstlerischen Praxis liegt nicht nur in der Erweiterung der schulischen Bildungsarbeit durch Kooperationsprojekte. Vielmehr geht es darum, sie als zentrale Dimension des Schullebens zu etablieren, von der aus die gesamte Organisationsentwicklung wie auch die Unterrichts- und Personalentwicklung stattfinden. Diese Perspektive bedeutet, dass ästhetisch-kulturelle Praxis nicht nur zur ‚Kultivierung’ der Kinder und Jugendlichen eingesetzt wird. Sie verdeutlicht gleichermaßen das Ziel der Schule, sich durch ästhetisch-künstlerische Praxis selbst zu kultivieren (vgl. hierzu auch Eckart Liebau (2009): Schulkünste. In: Eckart Liebau; Jörg Zirfas (Hg.): Die Kunst der Schule. Über die Kultivierung der Schule durch die Künste.)

 

Eckpunkte für ein kulturelles Schulprofil
Ein solcher Prozess der ‚Selbstkultivierung’ einer Schule kann in ein kulturelles Schulprofil einmünden, für das sich elf Eckpunkte beschreiben lassen.

 

  • Alle Schülerinnen und Schüler haben regelmäßig qualitativ hochwertige Möglichkeiten zu eigener künstlerisch-ästhetischer Praxis.
  • Künstlerinnen und Künstler, außerschulische Kulturpädagogen und Kulturmanagerinnen gestalten als Bildungspartner gemeinsam mit Lehrerinnen und Lehrern Unterricht. Außerhalb des Unterrichts gibt es zahlreiche Angebote künstlerischer Arbeitsgemeinschaften, die von den Schülerinnen und Schülern gemeinsam mit schulischen und außerschulischen Expertinnen und Experten umgesetzt werden.
  • Alle künstlerischen Fächer werden von ausgebildeten Fachkräften unterrichtet und kontinuierlich für alle Schülerinnen und Schüler angeboten.
  • Kulturell-ästhetische Lernwege sind Bestandteil auch aller nichtkünstlerischen Schulfächer. Neben der Integration der Künste als Medien des Lernens und Forschens sind Prinzipien der kulturellen Bildung, wie z.B. Selbstwirksamkeit, Partizipation und Stärkenorientierung, Kernbestandteile einer neuen Lernkultur.
  • Der Stundenplan ist so gestaltet, dass längere Zeit und fächerübergreifend an einem künstlerische
    Vorhaben gearbeitet werden kann. Kulturell-ästhetische Bildungsangebote sind nicht ausschließlich auf den Nachmittagsbereich verschoben. Im Sinne eines umfassenden Bildungskonzepts rhythmisieren Unterricht und kulturelle Angebote einander ergänzend als gleichberechtigte Lernformen den Schultag.
  • Es sind Räume mit entsprechender Ausstattung vorhanden, die ein Arbeiten im Medium der Künste ermöglichen. Dies betrifft sowohl Arbeits- als auch Aufführungsräume.
  • Neue Lernorte und Erfahrungsräume werden in das Bildungskonzept integriert. Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte nutzen regelmäßig die Räume und das Angebot der Einrichtungen vor Kultureinrichtungen vor Ort sowohl im Rahmen des Unterrichts als auch im Rahmen nichtformaler kultureller Angebote der Schule.
  • Nicht nur im Unterricht und Ganztagsbereich wird eng mit Kultur- und Kunsteinrichtungen im Stadtteil oder der Kommune zusammengearbeitet. Die Schule ist auch selbst ein offener Ort der Begegnung und Präsentation.
  • Kulturschulen verfügen über ein Lehrpersonal, dass sowohl über kulturell-ästhetische Kompetenzen als auch über die Fähigkeit verfügt, gemeinsam mit außerschulischen Expertinnen und Experten ein ganzheitliches Bildungsangebot umzusetzen.
  • Alle Mitglieder der Schulgemeinschaft sind an der Gestaltung des Schullebens aktiv und wirksam beteiligt. Für die Gestaltung von Beteiligungsprozessen werden Methoden aus Kunst und Kultur als Reflexions-, Ausdrucks- und Entwicklungswege genutzt.

 

Die Schule nimmt das Subjekt in seiner Wahrnehmungs-, Gestaltungs- und Kommunikationsfähigkeit ernst, indem sie über eine Architektur verfügt, die Begegnung ermöglicht und Kreativität anregt. Auch dies macht die Schule für alle sich in ihr bewegenden Menschen zu einem guten Ort des Lernens, Arbeitens und Lebens.

Auf dem Weg zur Kulturschule
Wenn also eine nachhaltige und wirksame Veränderung der schulischen Rahmenbedingungen als Prozess der Identitätsbildung jeder Schule stattfindet, dann sind Wertschätzung und Partizipation aller Beteiligten – Schulleitung, Lehrerkräfte, Schülerinnen und Schüler, Eltern, Verwaltungspersonal, Hausmeisterinnen und -meister, pädagogische Fachkräfte und Kulturpartner – die Voraussetzung. In Anlehnung an den „Index für Inklusion“ (deutschsprachige Ausgabe: Ines Boban; Andreas Hinz (2003): Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in Schule der Vielfalt entwickeln) lassen sich fünf Fragen formulieren, an denen sich der Prozess einer kulturellen Schulentwicklung orientieren kann:

 

  • Was sind Barrieren für ein Lernen mit Kunst und Kultur in unserer Schule?
  • Für wen ergeben sich in unserer Schule Barrieren für ein Lernen mit Kunst und Kultur?
  • Was kann dabei helfen, Barrieren für ein Lernen mit Kunst und Kultur in unserer Schule zu überwinden?
  • Welche Ressourcen sind in unserer Schule vorhanden, um Lernen mit Kunst und Kultur zu unterstützen?
  • Wie können zusätzliche Ressourcen mobilisiert werden, um Lernen mit Kunst und Kultur in unserer Schule zu unterstützen?

 

Die besondere Qualität dieser Fragen besteht nicht nur darin, dass sie alle in der Schule handelnden Menschen einbezieht. Sie ermöglichen darüber hinaus einen veränderten Umgang mit der Unterschiedlichkeit von Kultur und Schule, indem sie die Unterschiede als Möglichkeit zur Weiterentwicklung des Schullebens aufgreifen.

 

Damit die Einbindung der Kunst- und Kulturprojekte in den Prozess der Identitätsbildung der jeweiligen Schule gelingen kann, sind demnach entsprechende Grundwerte und Handlungsprinzipien zu berücksichtigen, in deren Zentrum das Verständnis von Bildung als Prozess der Selbstkultivierung steht (nach Tom Braun; Max Fuchs, Viola Kelb (2010): Auf dem Weg zur Kulturschule I. Bausteine zu Theorie und Praxis der Kulturellen Schulentwicklung. S. 249f. sowie Tom Braun (2010): Lebenskunst lernen in der Schule. Mehr Chancen durch Kulturelle Schulentwicklung. S.101):

 

  • Die Schule wird als fortlaufend lernende Organisation verstanden, wobei es – gerade bei dem Prozess der kulturellen Schulentwicklung – um kulturelles Lernen mit den Mitteln der Kunst geht.
  • So wie sich die Bildung des/r Einzelnen als ein Prozess der Kultivierung vollzieht, so ist auch der Prozess der Schulentwicklung ein Prozess der Selbstkultivierung der Institution.
  • Im Prozess der kulturellen Schulentwicklung müssen im Sinne der Inklusion die Lernprozesse der Individuen und der Institution als einander bedingend berücksichtigt werden.
  • Kulturelle Schulentwicklung wird als ein partizipativer Prozess gestaltet, der die Erfahrungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten aller intensiviert.
  • Nicht nur die Organisation der Einzelschule ist als ein soziales System zu verstehen. Auch der/die Einzelne muss im Prozess der Schulentwicklung im Wechselspiel der verschiedenen Persönlichkeitsdimensionen (Kognition, Emotion etc.) berücksichtigt werden.
  • Der Prozess der ‚Selbstkultivierung’ der Schule verlangt einen schulinternen Prozess der Selbstreflexion der eigenen Schulkultur als symbolische Ordnung, die das Handeln der sich in der Schule bewegenden Menschen beeinflusst und die zugleich von ihnen gestaltet wird. Hierbei benötigen Schulen eine Moderation und Beratung durch qualifizierte Fachkräfte.
  • Weil der Prozess der kulturellen Schulentwicklung eine Einbindung der Kunst- und Kulturprojekte in die Identitätsarbeit der Schule beabsichtigt, erfolgt er von Beginn an unter Einbeziehung ästhetisch-künstlerischer Zugänge.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen auf dem Internetportal „Kultur bildet.“ des Deutschen Kulturrates im November 2013.

Tom Braun
Tom Braun ist Geschäftsführer der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) und des Rates für Soziokultur und Kulturelle Bildung im Deutschen Kulturrat.
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