Wendezeit

Das öffentliche Gespräch über die Jahre 1989/90 darf kein Selbstgespräch des Westens bleiben

 

Und wenn ich mich nun daran erinnere, wie schnell es nach 1990 keine größere Zeitung, keine Rundfunk- oder Fernsehstation in ostdeutscher Hand mehr gab, obwohl die Medienlandschaft sich ebenso schnell verändert hatte wie das ganze kleine Land, muss ich doch zugeben: Damit waren die große Aussprache, die Erinnerung, ja, die Selbstverständigung, die sich eine ganze Bevölkerung eben erst aufgeschlossen hatte, passé. Das folgte der ökonomischen Logik und fühlte sich wie Entmündigung an. Wie Belehrung. Ich weiß, wie das klingt, wie sich das anhört. Ich sage es ohne Arg, ohne Klage. Ich erinnere mich. Ich stelle fest, wie etwas wirkte, das über uns kam. Statt Aussprache miteinander zu halten, waren wir Zuhörer geworden. Die Lähmung folgte auf dem Fuß.

 

Neben ökonomischer Logik gibt es auch eine soziale Logik, nach der die Gesellschaftsform der DDR in den auf den Herbst 1989 folgenden Wochen ihren totalitären Charakter verloren hatte. Wie die ostdeutsche Demokratiebewegung sich im September 1989 bildete und wie der Verlauf der für mich nicht friedlichen, sondern nur weitgehend gewaltlosen Auseinandersetzung mit dem Staatsapparat verlief, sprechen deutlich dafür. Deshalb glaube ich, dass, wenn die DDR ausschließlich mit inzwischen alt gewordenen Begrifflichkeiten wie Unrechtsstaat, zweite deutsche Diktatur usw. charakterisiert wird, die ihr in einer Zeit vor dem Herbst 1989 zugesprochen wurden, die im Herbst 1989 zutage getretene ostdeutsche Gesellschaft nicht gefasst werden kann.

 

Das ist nun 30 Jahre her. Man kann sagen, das hat sich doch längst überholt. Das gilt doch heute alles nicht mehr. Wer ist überhaupt ostdeutsch? Ein im Osten Geborener? Und ist ein in Ostdeutschland Lebender ein Ostdeutscher, auch wenn er im Westen zur Welt kam? Das ist doch alles kein Thema mehr für jüngere Leute, die nach dem Mauerfall geboren wurden. Das nivelliert sich doch rasch … In diesem Fall bin ich aber Psychologin genug, zu sagen, dass ein tendenziell egalitäres Aufwachsen zu anderer psychischer Grundkonstitution führt als eines in tendenziell elitären Verhältnissen. Erfahrungen werden über Generationen weitergegeben, ohne dass man etwas dafür oder dagegen tun kann. Auch heute noch sind im Osten Geborene unterrepräsentiert in bundesdeutschen Höhen, und das auch auf dem Gebiet des Ostens. Politik, Justiz, Wissenschaft, für alle sicht- und fühlbar auch Wohnungseigentum, vor allem in Ostdeutschlands sogenanntem Premiumsegment – überwiegend in westdeutscher Hand. Ausländer geraten mit 24 Prozent häufiger in Leitungspositionen der Wissenschaft als Ostdeutsche mit 15 Prozent.

 

Drei von 60 Staatssekretären im Jahr 2018 waren ostdeutsch, ebenso 4 von 154 Botschaftern. In Führungspositionen sind sie noch seltener als Frauen anzutreffen. In der Bundeswehr gab es 2018 zwei Ostdeutsche unter 202 Generälen und Admiralen, aber die Hälfte aller im Kosovo und in Afghanistan stationierten Soldaten stammte aus dem Osten. In den neuen Bundesländern waren 2018 nur 13,3 Prozent Richter aus Ostdeutschland beschäftigt, an Bundesgerichten gar nur 3 von 336, wie Frontal 21 berichtet. Das ließe sich beliebig erweitern.

 

Als Klaus Wolfram, 1989 Programmkoordinator des Neuen Forums und Mitglied in dessen Sprecherrat, Anfang November 2019 in einem Vortrag vor den Mitgliedern der Berliner Akademie der Künste zu dem Schluss kam, das öffentliche Gespräch über die Jahre 1989/90 gliche hierzulande einem Selbstgespräch des Westens über den Osten, war der Affront gesetzt. Ein Ost-West-Affront, den wir längst zu Grabe getragen geglaubt hatten. Genervt scheint der Westen vom pludrigen, piefigen, unverständlichen Osten, der deutschen Provinz. Das darf er. Ich aber danke Klaus Wolfram für die Inspiration zu diesem Text, denn ich würde gern etwas dazu beitragen, dass das nicht so bleibt.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2020.

Kathrin Schmidt
Kathrin Schmidt ist Schriftstellerin und Sprecherin der Deutschen Literaturkonferenz.
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