Was uns eint und was nicht

1989 und 2019: Versuch einer Betrachtung

Der erste und beste Eindruck: In der Fraktion saß ich zusammen mit Menschen unterschiedlichster Berufe. Ich kam doch von der hehren Kunst! Ich kannte doch nur solche, die auch von der hehren Kunst kamen! Begeistert stellte ich fest, wie schlau die alle waren, ganz ohne Noten lesen zu können – die Pfarrersfrau Renate Hofmeister, der polnische Bauingenieur Jacek Gredka, die Finanzerin Dorette Suhr, der Umweltschützer Matthias Stawinoga. Renate räumte mit dem Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen auf, Jacek las meine Gedichte und wollte immer neue, Dorette beäugte alles aus kühl monetärer Sicht, Matthias suchte Verbündete für den grünen Gürtel um Berlin. Ihm verdanken wir heute, dass nördlich von Berlin nicht gebaut werden durfte. Neue Schulen wurden gebraucht, Galerien nahmen ihre Arbeit auf, das alte Handelshaus wurde durch das Lindencenter ersetzt, ein Kino entstand und die Wohnungssanierung ließ Neubaublöcke bunt und schick erscheinen. Lebenswert, individuell, modern, mit guter Sicht aus dem 12. Stock auf Berlin.

 

Eine besondere Erinnerung gibt es von der wöchentlichen Sprechstunde im Rathaus. Es kamen Bauarbeiter, sehr viele. Sie hatten die neuen Overalls an, Babystrampelanzüge haben wir damals gesagt. Und sie haben geschimpft. Auf alles und ganz laut und auf uns, die neuen Politiker. Und dann fiel der eine Satz, der mich seither verfolgt: „Ihr seid jetzt an der Macht. Nun macht was draus.“ Also: ich, Renate, Jacek, Dorette … Wir waren jeden Abend im Rathaus, es gab einfach zu viel Arbeit. Aber über Macht hatten wir nicht nachgedacht. Noch im Herbst 1989 schrieben Wolfgang Thierse, Iris Schälicke und ich ein Gesamtberliner Kulturkonzept – die Institutionen müssten erhalten bleiben, weil es ja genau so viele Menschen im vereinten Berlin geben werde wie zuvor in seinen Teilen, weil man Singakademien und Orchester nicht einfach fusionieren könne, weil das große Berlin alle Museen bräuchte. Die Akademie der Künste müsste wieder ordentlich Kunst fördern und Freiheit wäre jetzt das wichtigste Gut für Künstler, ganz ohne Angst.

 

Meine Geschichte ist nur ein Beispiel für viele Geschichten, so vielfältig wie die Menschen, die sich entschieden hatten, Parteien neu zu gründen wie Bündnis 90/Die Grünen und SPD oder sich neu erfanden wie FDP und CDU im Osten. In Sachsen und Brandenburg haben wir gerade erhebliche Stimmenverluste dieser Parteien erlebt und müssen uns fragen, woran das liegt und wie verlorenes Demokratiegedächtnis zurückzugewinnen ist.
Noch immer begreife ich die friedliche Revolution als Chance zur Freiheit, als Chance zu gestalten. Manchmal klappt es, manchmal muss man angehen gegen Verkrustungen, die es nach 30 Jahren immer noch oder wieder neu gibt. Mich ärgert es, wenn ich am Marktstand Stellung beziehen muss zum Waffenhandel Deutschlands, zum ungleichen Ost-West-Rentensystem, zur Armut in einem reichen Land. Aber eigentlich wollen sich die Fragesteller einbringen und wissen nicht, wie. Politische Aufklärung, Bildung – es gibt viel zu tun!

 

Was macht denn nun die Unterschiede aus, die andere Identität Ost? Die Antworten sind vielseitig, vielfältig wie die Lebensgeschichten selbst und ich kann es nur spontan – unwissenschaftlich – versuchen. Sofort mischen sich die kleinen Dinge mit den großen Weltsichten: Mut und Protesterfahrung, andere Lieder und Lieblingsbücher als Wissens- und Erfahrungsreservoire, bei den Alten noch die andere Schulbildung, Botschaften in der Kunst als Haltung, eine Portion russische Seele von Puschkin-Gedichten und Tschaikowski (am Ende mit „i“ wie im Russischen), die generelle Distanz zur Partei, 1968 ist das Jahr der Erschütterung über den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in Prag, Verehrung von Solidarność und Freudentränen über die ungarische Grenzöffnung am 10. September 1989. Dann die enttäuschten Helden im Hungerstreik der Kalikumpel von Bischofferode 1993 und im gleichen Jahr der Hit von den Prinzen „Alles nur geklaut“. Alle kennen „Kleine weiße Friedenstaube“ – 2016 wurde die Autorin, die Kindergärtnerin Erika Schirmer aus Nordhausen, mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Ein Friedensministerium wäre gut, nicht Verteidigung.

 

Unterschiede wachsen sich aus. Ja, wenn wir voneinander lernen und mit der Angleichung von Ost und West weiterkommen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2019

Ulrike Liedtke
Ulrike Liedtke, MdL ist Präsidentin des Landtages Brandenburg und Vizepräsidentin des Deutschen Kulturrates.
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