Nachkriegserbe

Denkmalpflege in Ost und West

Die Nachkriegsarchitektur, salopp gesagt, die Platte und der Betonklotz, haben unsere Städte und Gemeinden in Ost und West geprägt. In der Bundesrepublik wie in der ehemaligen DDR wurde dieses Erbe zunächst als schwierig angesehen. Mittlerweile hat sich die Wahrnehmung dieser Architekturphase wesentlich geändert. Neben der Baumasse und der schieren Größe werden die jeweiligen spezifischen Qualitäten der Nachkriegsarchitektur, wie beispielsweise ihr serieller Charakter, die Experimentierfreude und die Gestaltungslust beachtet, bewertet und geschätzt.

 

Gemeinsame Charakteristika für diese Bauphase sind moderne Materialien und neue Konstruktionsweisen. Dazu gehören industriell gefertigte Baustoffe wie Beton und Kalksandstein, Fenster aus Aluminium oder Fassadenverkleidungen aus Eternit. Darüber hinaus sind die Konstruktionen wesentliche Bestandteile der Gestaltung. Teilweise schadstoffbelastet oder mit experimentellem Charakter produziert, bringen die so verbauten Materialien und charakteristischen Oberflächen neue technologische Herausforderungen für die Denkmalpraxis mit sich. Das inzwischen gewachsene Wissen zu Instandsetzungsmöglichkeiten und konservierenden Restaurierungskonzepten wird von Maßnahme zu Maßnahme optimiert und weitergereicht. Insbesondere in den westlichen Bundesländern spiegelt sich in diesen Bauten das große Selbstbewusstsein der Architekten bzw. der Auftraggeber, welches sich in zum Teil kühner Architektursprache und edlen Materialien niederschlägt. Individualität zeigt sich in Konstruktion, Material und Materialbearbeitung, selbst das Spiel mit geometrischen Formen gehört dazu. Bauherrenwünsche werden möglichst variantenreich bedient. Eine spezifische Variabilität und eingeplante Veränderungsspielräume für die Nutzung sind denkmalkonstituierend und auch im Umgang mit den Bauten aufzugreifen. Oder der Fokus liegt auf minimierter Substanz und strikter Funktionalität mit serieller Gestaltung der industriellen Fertigungsmöglichkeiten.

 

Die gerade in den ostdeutschen Bundesländern stark verbreitete Serien- und Typenbauweise bietet eine große Variationsbreite an architektonischer Gestaltung und regionalen Spezifika. Die besonders konsequente Gestaltung des Seriellen folgte im Osten den politischen Vorgaben zur radikalen Industrialisierung des Bauens. Mit der Rationalisierung sollte besser, billiger und schneller gebaut werden. Der Architektur wurde zudem durch ideologisch besetzte Kunst am Bau eine staatstragende politische Identität zugesprochen. Planungskollektive auf zentraler oder auf Bezirksebene entwickelten die weitverbreiteten Montagebauweisen bis zum mit minimaler Substanz agierenden Stahlskelett weiter. Gerade diese filigranen Konstruktionsweisen reagieren sehr empfindlich auf Veränderungen und damit auch auf Anpassungen an aktuelle bauphysikalische und energetische Anforderungen.
Schutz und Pflege dieses kulturellen Erbes ist grundsätzlich ein Länder und Nationen übergreifender gesellschaftlicher Auftrag. Die spezifischen Werte des Nachkriegserbes zu erkennen, zu schützen und als Baudenkmale zu bewahren liegt in der Zuständigkeit der jeweiligen Denkmalfachbehörden in den sechzehn Bundesländern. Die Landesdenkmalämter wählen auf Grundlage ihrer Denkmalschutzgesetze aus der großen Zahl der Bauten die bedeutenden und authentisch überlieferten als Denkmale aus. Damit ist die rechtliche Voraussetzung gegeben, um die Eigentümer bei Maßnahmen an Baudenkmalen vonseiten der Denkmalbehörden fachlich zu beraten.

 

Die Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland (VDL) sorgt dabei für eine bundesweite Abstimmung. Sie vertritt unter dem Dach der Kultusministerkonferenz die gemeinsamen Interessen der Landesdenkmalbehörden nach außen. Die fachlichen Themen werden länderübergreifend in Arbeitsgruppen und auf den Jahrestagungen diskutiert und beispielsweise in der halbjährlich erscheinenden Zeitschrift »Die Denkmalpflege«, in Ausstellungen oder der Internetseite der VDL publiziert. Die VDL versteht sich als fachlicher Partner aller bundesweit tätigen Denkmalorganisationen, darunter das Deutsche Nationalkomitee für Denkmalschutz, die Arbeitsgruppe Kommunale Denkmalpflege des Deutschen Städtetages, die Deutsche Stiftung Denkmalschutz und der Hochschularbeitskreis Theorie und Lehre der Denkmalpflege. Diese Foren bieten die Möglichkeiten und die Bühne, auf Tagungen neue Themen und Fragestellungen breit aufgestellt zu diskutieren und fachliche Synergien bundesweit zu nutzen. Beispielgebend wurde in der Publikation „Zwischen Scheiben und Wabe. Verwaltungsbauten der Sechzigerjahre als Denkmale“ ein Katalog an hochwertigen Verwaltungsbauten in Ost und West präsentiert. Nicht zu vergessen der erste Gesamtberliner „Dehio“, der bereits 1994 und in aktualisierten Neuauflagen, insbesondere die jüngeren Bauten Berlins grundlegend würdigt. Der Berliner Landeskonservator Christoph Rauhut hierzu: „Der jüngere Berliner Denkmalbestand ist Zeugnis für die außergewöhnliche Geschichte einer geteilten Stadt. Charakteristische Denkmale dieser Zeit sind hierbei nicht nur unbequeme Erbschaften wie die Berliner Mauer, sondern auch die unterschiedlichsten Bauten einer Groß- bzw. Hauptstadt, die beidseits der Grenze entstanden.“ Ein solcher Ankerpunkt ist auch der Vorschlag des Landes Berlin, das „Doppelte Berlin“ mit der Karl-Marx-Allee (I. und II. Bauabschnitt) und der Interbau 1957 (Hansaviertel) gemeinsam in die deutsche Tentativliste für das UNESCO-Welterbe aufzunehmen. Sind doch in der ehemals geteilten Stadt in unmittelbarer Nachbarschaft das bauliche Erbe der Architektur und des Städtebaus der DDR als auch des Westens in einem Wettstreit der politischen Systeme entstanden. Die DDR-Architektur bildet also keine Ausnahme, sondern ist wichtiger Bestandteil des Berliner und damit des bundesweiten Denkmaldiskurses.

 

Mit Blick auf die Vielschichtigkeit des denkmalwürdigen Nachkriegserbes und der anspruchsvollen Herausforderung hinsichtlich Substanzerhaltung und Erscheinungsbild sind Dialog, Kooperation und interdisziplinärer Austausch mit regionalen, nationalen und internationalen Partnern unabdingbar. Dies gilt für den Systembau, die Platte und den Betonklotz gleichermaßen.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.

Simone Meyder
Simone Meyder ist als Vertreterin der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger Mitglied im Rat für Baukultur und Denkmalkultur.
Vorheriger ArtikelSchwieriges Erbe
Nächster ArtikelKein Nachteil ohne Vorteil