Für soziale Rechte und internationale Solidarität

Die Entwicklung der "jungen Welt": Vom FDJ-Zentralorgan zur demokratischen Tageszeitung

An Nachfrage hat es nicht gemangelt: Zum Ende der DDR war die Junge Welt (JW) mit mehr als 1,5 Millionen Leserinnen und Lesern die auflagenstärkste Tageszeitung im Land. Als Zentralorgan der FDJ hatte sie durchaus mehr Spielraum als andere Publikationen. 1989 und in den folgenden Monaten setzten sich ihre Leserinnen und Leser in und mit der Zeitung intensiv mit den Entwicklungen im sozialistischen Staat auseinander. Die meisten derjenigen, die sich zu Wort meldeten, sprachen sich dafür aus, den Sozialismus auf verbesserter Grundlage weiterzuentwickeln.

 

Mit Jens König wurde im Herbst 1989 zum letzten Mal über den Zentralrat der FDJ der JW-Chefredakteur ausgewählt und dann von der Redaktionsversammlung bestätigt. Am 10. Januar 1990 verkündete er auf dem Titelblatt, dass die JW nicht länger Organ der FDJ sein wolle. Am Titel der Zeitung und an deutlich mehr als 100.000 verbliebenen Abonnements bestand Interesse seitens großer westdeutscher Verlagshäuser. In der Zeitungsbranche herrschte Euphorie: Viele Verlage glaubten an einen lang anhaltenden Hunger von Bürgern der DDR nach den bisher nur schwer zugänglichen Westmedien. Tatsächlich aber haben die großen überregionalen Tageszeitungen im Osten nie richtig Fuß fassen können.

 

Der Verkauf an einen großen westdeutschen Verlag kam nicht zustande, stattdessen erwarb die Westberliner Mediengruppe Schmidt & Partner, zu der unter anderem „Titanic“ und später auch „Der Freitag“ gehörten, die JW im April 1991 für eine D-Mark. Zuständiger Geschäftsführer im Verlag Junge Welt war damals übrigens der heutige Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Dietmar Bartsch. Jens König blieb Chefredakteur, inhaltlich wurde das Blatt immer beliebiger und richtete sich in der neuen Zeit ein. In der Belegschaft gab es Diskussionen über die Zukunft der Zeitung: Der ungebremste dramatische Verfall der Auflage und die Profillosigkeit – so gab es eine über 160-teilige Serie mit dem Titel „So werde ich Jungunternehmer“ – machten ein Ende absehbar. Es wurde ein Aktionsausschuss gegründet, mit dem die Übernahme einer Mehrheit an den Anteilen der GmbH durch die Belegschaft angestrebt wurde, auch über Arbeitskämpfe zur Durchsetzung dieser Forderung wurde diskutiert.

 

Dazu kam es nicht. Stattdessen wird Hermann L. Gremliza aus Hamburg als Berater eingeflogen, der 1993 damit beginnt, ein neues Konzept zu entwickeln, das dann ab dem 9. Mai 1994 mit neuem Logo – kleines j, großes W – und neuer Chefredaktion auch umgesetzt wird. Der Auflagenverfall – mittlerweile ca. 17.000 Abos – kann gebremst, aber nicht gestoppt werden. Die Alteigentümer kassieren die Leserschaft ein letztes Mal Anfang April 1995 ab und geben dann die Einstellung des Titels bekannt.

 

Auch diesmal kommt es anders. Der Betriebsratsvorsitzende Dietmar Koschmieder nimmt Verhandlungen mit den Alteigentümern auf, kauft Titel und Abobelieferungsrechte. Kurz vor dem 50. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus gründet er den Verlag 8. Mai GmbH, die verbliebene Belegschaft nimmt nach wenigen Tagen die Produktion der Zeitung wieder auf. Ein beim damaligen Schatzmeister der PDS, Dietmar Bartsch, angefragter Kredit kommt nicht zustande, aber die Gründung einer Genossenschaft gelingt. Nachdem sie bei den Leserinnen und Lesern genügend Kapital angesammelt hat, übernimmt die Linke Presse- und Verlagsgenossenschaft junge Welt eG 1998 die Mehrheit am Verlag 8. Mai GmbH.

 

Dass diese Konstruktion bis heute funktioniert, hat viel mit den inhaltlichen Klärungsprozessen zu tun, denen sich Verlag und Redaktion gestellt haben. Ein Teil der Belegschaft wollte mit Herkunft und Geschichte der jungen Welt nichts zu tun haben und war der Ansicht, nur eine Hülle, eine materielle Grundlage übernommen zu haben. Der andere berief sich auf die progressiven Traditionslinien des Blattes: „Junge Welt“ sollte demnach weiterhin eine klassenkämpferische Zeitung gegen Krieg und für internationale Solidarität sein und ihren marxistischen Ansatz weiterentwickeln. 1997 trennten sich beide Teile nach einem harten Streit: Die »antideutsche« Fraktion gründete die Wochenzeitung jungle World, die Internationalisten schärften das Profil der jungen Welt.

 

Über die Jahre ist es dem Verlag gelungen, die Verkäufe weiter zu steigern. Sie war eine der ersten Zeitungen mit einem Onlineabo. Heute hat sie eine Druckauflage, die der des „Neuen Deutschland“ entspricht, und verkauft zumindest am Kiosk nicht viel weniger Exemplare als die „Taz“. Im Gegensatz zu den beiden genannten und anderen überregionalen Tageszeitungen kämpft sie für den langfristigen Erhalt gedruckter Tagespresse, die sie als wichtiges Instrument der Aufklärung versteht.

 

Als Zentralorgan des Jugendverbandes FDJ der DDR hatte die JW ein überwiegend sehr junges Lesepublikum. Zwar ist auch die Leserschaft der jW älter geworden, sie ist aber im Schnitt jünger als bei allen anderen Tageszeitungen und findet mittlerweile neue Leser in allen Altersklassen und sozialen Schichten – in den alten wie in den neuen Bundesländern. Die recht heterogene Leserschaft eint indes eines: Sie ist mit bestehenden Verhältnissen nicht einverstanden und hält Veränderungen für dringend notwendig – auf der Grundlage des Ausbaus demokratischer und sozialer Rechte und der internationalen Solidarität.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2020.

Stefan Huth
Stefan Huth ist Chefredakteur der in Berlin erscheinenden Tageszeitung "junge Welt" und Mitglied im Vorstand der Genossenschaft LPG junge Welt eG.
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