„Das Publikum verstand das Ungesagte“

Das Kabarett DISTEL im Wandel der Zeit

Seit fast 70 Jahren wird im legendären Berliner Kabarett DISTEL gestichelt, gespottet, seziert und verrissen. Der sogenannte Stachel am Regierungssitz piesackt – trotz zum Teil schwieriger Umstände wie strenger Zensur durch die SED, Systemwechsel oder aktueller Hygieneauflagen – über die Jahrzehnte hinweg stets unaufhörlich. Die Geschäftsführerin Astrid Brenk berichtet über die Rolle des Kabaretts von der DDR bis heute.

 

Theresa Brüheim: Frau Brenk, Sie sind in Ostberlin geboren und aufgewachsen, haben dann an der Humboldt-Universität zu Berlin Kultur- und Theaterwissenschaften studiert. Welche Rolle spielte die DISTEL in dieser Zeit für Sie?

Astrid Brenk: Als Schülerin hatte ich ein Theaterabonnement und besuchte häufig die Berliner Theater. Während des Studiums interessierte ich mich natürlich weiterhin für Theater und Konzerte. Mit unserem Studentenausweis kamen wir ja für 50 Pfennig in jedes Theater. In diesem Rahmen habe ich so oft es ging alle Berliner Häuser inklusive die DISTEL besucht.

 

Können Sie sich noch an Ihren ersten Besuch erinnern?

Da muss ich leider passen. Aber im Zeitraum von 1984 bis 1989 habe ich alle Programme der DISTEL gesehen.

 

Die DISTEL wurde 1953 als Gegenpol zum Westberliner Kabarett „Die Stachelschweine“ gegründet. Somit ist es das älteste ostdeutsche Berufskabarett. Es sollte die Unzufriedenheit der Ostberlinerinnen und Ostberliner humorvoll auffangen und zugunsten des „sozialistischen Aufbaus“ umfunktionieren. Inwieweit ist das gelungen?

Das war immer eine große Gratwanderung. Von 1953 bis Ende der 1970er Jahre hatte die DISTEL die Funktion, die kleinen Malheure und Malaisen des Alltags im Sozialismus in ihren Fokus zu nehmen und zu dokumentieren. Dabei war einiges erlaubt, anderes natürlich nicht. Versorgungsschwierigkeiten z. B. konnten kabarettistisch aufs Korn genommen werden. Prinzipiell mussten alle Programme vorab beim Magistrat von Berlin eingereicht werden. Sie wurden zuerst über die Fachabteilung Kultur und Theater beurteilt. Parallel gingen sie an die Bezirksleitung der SED und wurden nochmals zensiert. Erst, wenn diese Prüfungen alle positiv verliefen, konnte das Programm auf die Bühne kommen.

Ein entscheidender Wandel vollzog sich Anfang der 1980er Jahre. Da wurden alle Berliner Theater – so auch das Kabarett – zu einem Hotspot politischer Verständigung. Das war ungeheuer spannend, in diesen Jahren – ca. ab 1984 bis 1989 – im Theater zu sein; als Besucher und auch als Mitarbeitende. Es gab eine geheime Übereinkunft zwischen denen im Saal und denen auf der Bühne: Ungesagtes und Angedeutetes wurde verstanden. Man hätte auch das Rotkäppchen als Politthriller auf die Bühne bringen können. Der DISTEL kam eine wichtige Ventilfunktion zu: Bestimmte Dinge wurden nicht gesagt – das Publikum verstand das Ungesagte. Ein Beispiel: Der Schauspieler Edgar Harter drehte sich bei einem Programm einmal um und ging in Richtung Wand. Sie müssen wissen, die Wand in der DISTEL sieht aus wie eine Mauer. Dabei sagte er: „Och Gott, jetzt renne ich schon fast gegen die Mauer.“ Das ist ein relativ simples Beispiel. Aber es zeigt, dass die zweite, die Metaebene, immer präsent war. Im Zuschauerraum brannte zu dieser Zeit die Luft, gerade das Kabarett bekam eine hochbrisante politische Aufgabe, die nicht mehr ganz dem Gründungsduktus entsprach.

DISTEL-Karten waren absolute Mangelware. Es gab Wartelisten bis zu drei Jahren. Karten wurden zur Handelsware: Ich bekomme von dir Zement, du kriegst von mir eine DISTEL-Karte, schon fast wie in der Warenwirtschaft. Das war eine sehr ereignisreiche, sehr spannende Zeit für die DISTEL. Höhepunkt 1989 das Verbot des Programms „Keine Mündigkeit vorschützen“.

 

Die DISTEL war damals – wie bereits gesagt – so beliebt, dass nicht nur die Karten über Jahre ausverkaufte Handelsware waren, sondern sogar noch eine zweite DISTEL-Bühne in Hohenschönhausen errichtet wurde.

Heute hat die DISTEL ca. 20 Mitarbeitende. In den Jahren kurz vor der Wende waren es um die 70. Vor 1989 existierten dann zwei DISTEL-Teams. Eins für die Degnerstraße, eins für das Haupthaus in der Friedrichstraße. Parallel dazu gastierte die DISTEL noch in der Republik. Vereinzelt gab es sogar Gastspiele im „nichtsozialistischen Warengebiet“.

 

1989 fiel dann die Mauer. Wie ging es für die DISTEL danach weiter?

Zur Wendezeit wurde die DISTEL kurzzeitig von der Senatsverwaltung für Kultur übernommen – wie alle anderen Ostberliner Theater von der Volksbühne über die Opernhäuser bis hin zum Berliner Ensemble. Dann offenbarte die Senatsverwaltung der DISTEL: „Wir können euch nicht mehr finanzieren.“ Das war sozusagen ein Anachronismus. In der DDR wurde das „systemkritische“ Kabarett ja voll finanziert. Die DISTEL stand also vor der Wahl: „Entweder wir wickeln euch ab oder ihr wickelt euch selbst ab – oder ihr geht einen anderen, privaten Weg.“ Und da haben beherzte Künstler und der Verwaltungsdirektor ohne jegliche Subventionen eine GmbH gegründet. Diese rechtliche Organisationsstruktur besteht bis heute. D. h. wir bekommen keinerlei Unterstützung von staatlicher oder städtischer Seite. Bis zur Coronapandemie lief es künstlerisch und finanziell hervorragend.

Was bedeutete die Wende auch für das Programm und das Ensemble der DISTEL?

Im Prinzip hat die DISTEL weiter mit einem festen Ensemble gearbeitet. Nach der Wende waren es dann sechs fest beschäftigte Schauspielerinnen und Schauspieler. Mit der Zeit gingen einige Kolleginnen und Kollegen in Rente, sodass auch zunehmend mit Gastschauspielern gearbeitet wurde und wird.

Wir spielen immer mit drei bis maximal fünf Schauspielern und zwei bis maximal drei Livemusikern. Das ist etwas, was uns von anderen Kabaretts abhebt: Wir sind das größte Ensemble-Kabarett in Deutschland und spielen immer mit Livemusik.

Natürlich musste man nach der Wende sehen, wie die DISTEL sich als politisches Kabarett positioniert. Plötzlich war ja sozusagen alles erlaubt, man konnte alles infrage stellen. Ein, zwei Jahre nach der Wende schwamm man noch auf der Welle von 1989 mit. Danach musste eine Antwort auf die Frage gefunden werden: Womit kriegen wir die Leute wieder ins politische Kabarett?

Bis heute gibt es für jedes neue Programm einen Head-Autor und mehrere weitere Schreibende sowie Komponisten und Arrangeure. Ein Programm erlebt 150 bis 200 Aufführungen und wird ständig überarbeitet, den aktuellen politischen Erfordernissen angepasst. So läuft das Programm ca. zwei Jahre. Da passiert natürlich eine Menge in der Welt. Die Politik gibt uns die besten Handlungsvorlagen, die wir investigativ recherchieren und verarbeiten.

Mittlerweile haben wir uns weitestgehend vom reinen Nummernprogramm verabschiedet. Wir spielen verstärkt Kabarettkomödien, die eine in sich geschlossene Handlung haben. Dabei werden die Probleme der Menschen, die im Zuschauerraum sitzen, aufgegriffen und aufgeführt, sodass sie sich, ihren Alltag, wiedererkennen. Und das natürlich alles mit einem kleinen Augenzwinkern. Der Berliner Flughafen war z. B. lange Zeit ein beliebtes Thema.

Zudem zeigen wir musikalische Programme, die wesentlich stärker auf Cover-Songs und eigene Kompositionen setzen.

Unsere Programme beschäftigen sich aber ebenso mit brisanten überregionalen, bundesweiten, europäischen und weltpolitischen Themen, wie z. B. die Klimakrise oder die Flüchtlingsproblematik. Wir positionieren uns immer sehr stark – vor allem gegen Rechts. Das ist vollkommen klar. Das ist unsere Überzeugung und das sehen wir auch als unseren Auftrag.

 

Für die DISTEL als privatfinanziertes Theater stellten die Einschränkungen durch die Coronapandemie einen starken Einschnitt dar. Wo steht die DISTEL heute anderthalb Jahre nach Beginn der Krise?

Die Coronazeit war für uns, wie für alle anderen Bühnen der Republik auch, ein massiver Einschnitt. Ab 13. März 2020 ging kein Vorhang mehr auf. Wir haben uns in dieser Zeit bemüht, alle Förderprogramme von Senats- und Bundesseite in Anspruch zu nehmen. Das ist uns auch in weiten Teilen gelungen. Und wir haben nahezu alle Kolleginnen und Kollegen auf Kurzarbeit gesetzt.

Im Oktober konnten wir für acht Vorstellungen den Vorhang kurzzeitig aufgehen lassen. Im November brach alles wieder zusammen, sodass wir von November bis Juni nicht mehr gespielt haben. In dieser Zeit produzierten wir kleinere Kabarettstücke und Podcasts für das Internet.

Von Juni bis August spielen wir einige Vorstellungen open air im Nikolaiviertel und in der Parkbühne in Biesdorf.

Ich hoffe sehr, dass wir ab 19. August das Theater öffnen werden. Wir beginnen vorsichtig mit vier Veranstaltungen in der Woche. Erst mal abwarten, wie das Publikum reagiert. Wir hoffen sehr, dass uns die Zuschauer die Treue halten.

Die Zeit des Nicht-Spielens haben wir genutzt, um das Theater hygienetechnisch aufzurüsten, die Belüftung und die Sichtachsen entscheidend zu verbessern.

Von September bis Dezember präsentieren wir drei Programme, die sich alle mit der Deutschland-Thematik befassen: Das erste startet im September, das zweite folgt im Oktober und die letzte Premiere findet im Dezember statt.

Alle Programme, die für 2020 geplant waren, mussten eingestampft werden. Die Texte wurden nahezu komplett neu erarbeitet. Die Zeit und auch die Menschen haben sich verändert. Hochbrisant für uns ist natürlich die Wahl.

 

Die Daumen sind fest gedrückt. Welche Bedeutung kommt der DISTEL heute im gesamtdeutschen Kabarettbetrieb zu?

Die DISTEL ist trotz ihres Alters und der vielen Wandlungen, die sich innerhalb des Kabaretts vollzogen haben, als Marke konstant geblieben – wir zeigen politisches Kabarett, sozusagen als „Stachel am Regierungssitz“.

Vor Corona absolvierten wir pro Jahr rund 80 Gastspiele in ganz Deutschland und der Schweiz – das machte uns nach der Wende sehr bekannt.

Zunehmend kommen auch jüngere Leute zu uns. Wenn sie erst mal drin sind, wissen sie dann auch: Es ist nicht dröges Politgebabbel, sondern exzellentes und vergnügliches Kabarett, und für die Lehrer sogar noch mit politischem Bildungsauftrag. Viele Schulklassen aus dem gesamten Bundesgebiet besuchen uns. Es macht richtig Spaß, die jungen Leute zu sehen. Ich freue mich immer, wenn man von oben in den Saal guckt und die Displays der Handys sind dunkel. Das ist ein gutes Zeichen.

Darüber hinaus bemühen wir uns, weitere Publikumskreise  zu akquirieren. Dabei haben wir es, wie alle Privattheater im kulturellen Berliner Haifischbecken, natürlich ein bisschen schwerer als die staatlich subventionierten Theater, die häufig mit Preisdumping Zuschauer ziehen. Wir können mit solchen Preisen nicht operieren, da wir von den Einnahmen leben, die wir für die Kunst, das Personal, die Werbung, die Investitionen und laufenden Kosten verwenden. Das Überleben ist für uns schwieriger. Im Übrigen nicht nur für die DISTEL. Es gibt in Berlin ja noch andere rein private Theater und viele selbstständige Künstler. Durch die Hilfsprogramme konnten wir uns bislang relativ gut über Wasser halten. Wir hoffen, dass die Fördermaßnahmen weitergehen. Der Stellenwert von Kultur ist in der Politik noch nicht überall angekommen.

Denn wir glauben nicht, dass es wieder von null auf hundert geht – mit dem Publikum und entsprechend auch mit den Einnahmen. Es bedarf sicher einiger Zeit. Das Publikum muss wieder Vertrauen in die Sicherheit im Theater gewinnen. Gerade im Sommer 2021 sitzen die Leute nach den Einschränkungen der Pandemie lieber im Biergarten oder holen die ausgefallenen Reisen nach. Viele haben über anderthalb Jahre gesehen, dass es auch ohne Kultur geht. Dieses Interesse an der Kultur, am Kabarett müssen wir wieder wecken. Und da haben wir spannende Vorhaben für das letzte Quartal 2021. Ich hoffe und wünsche sehr, dass das Publikum das anerkennt und ins Haus kommt.

Ich wünsche mir auch, dass Medien und Kritiker den Fokus wieder mehr auf Privattheater, ihre Situation und ihren künstlerischen Output richten. Wir jedenfalls freuen uns auf den Re-Start und auf unser Publikum.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.

Astrid Brenk & Theresa Brüheim
Astrid Brenk ist Geschäftsführerin der DISTEL. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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