Fest der Sehnsüchte

Psychologische Aspekte des Narrenbrauchs

„Sei wer du willst!“ So wirbt ein großer Filialist für Kostüme, Masken und sonstige Verwandlungsutensilien. Der Griff zum Kostüm stellt viele Identitäten in Aussicht. Als Kinder kannten wir das. Da genügten Minimalrequisiten und wir waren Superman, Indianer, Popstar, Prinzessin, Hexe oder Gespenst. Für den Augenblick waren wir das wirklich – und keiner verdächtigte uns einer psychischen Störung.

 

Wer erwachsen werden will, muss die Spielwiese des „so tun als ob“ verlassen. In der Regel gelingt das ganz passabel. Der Stolz, schon groß und vernünftig zu sein, versüßt uns den Verzicht auf manche Fantasterei. Manchmal geschah das allerdings arg schnell, bei manchen wurde es gar erzwungen.

 

Die Spekulation unserer frühen Kindheit, vielleicht ein „vertauschtes Kind“ zu sein, belächeln wir als Große. Aber ein verlockender Gedanke bleibt es schon. Wie wäre es, als anderes Geschlecht, in einem anderen Stand, einer andere Ethnie auf die Welt gekommen zu sein? Fänden wir mehr Beachtung, wenn wir schöner wären, mehr Muskeln, mehr Sexappeal hätten? Reich und klug zu sein, wäre auch fein. Oder mal dummer August zu sein? Der hat nichts zu verlieren.

 

Ein Leben „auf Probe“ gestattet der Alltag nicht. Es sei denn, wir wären Schauspieler. Die dürfen Identitäten von Berufs wegen wechseln. Sie sind Helden und Deppen, dürfen befehlen, flirten oder einfach Quatsch machen. Und Abend für Abend, Film für Film heißen sie anders.

 

Und wir, die wir keine Schauspieler wurden? Wir können uns zum Narren machen. Nein, nicht im Alltag, das kostet Reputation und Einkommen, sondern beim „Spielefest der Narren“. Da müssen wir nichts fürchten. Jährlich inszenieren sie eine „verkehrte Welt“, nennen sie Fastnacht, Fasnet, Fasching, Karneval. Hier leben wir das verrückte Spiel des Rollenwechsels ganz ungeniert aus. Statt Peinlichkeit ernten wir Aufmerksamkeit, manchmal sogar einen Orden. Und meistens macht es Spaß.

 

Nicht nur die „Satire darf alles“, wie Kurt Tucholsky feststellte, auch das Spiel. Vorausgesetzt, es ist als Spiel erkennbar. Dann droht kein Seriositätsverlust, wenn der Buchhalter sich als Pirat geriert, keine Lächerlichkeit, wenn Biene Maja mit dem Eisbären flirtet. Spiele haben Regeln, und die wichtigste ist die Vereinbarung über das Spielende. Ohne Regeln kann es unerträglich, auch brenzlig werden.

 

„Als-ob-Spiele“ zeugen von Fantasie. Bei Erwachsenen auch von Regression, aber ohne pathologischen Kontext. Riskant ist es gleichwohl. Denn das Narrenspiel animiert zur Entgrenzung. „Das Andere“ in uns bricht sich Bahn, die Selbstoptimierung bekommt Bühne und Publikum. In dieser Dynamik können Leidenschaften sich entfalten – oder mit uns durchgehen. Auch das kennen wir aus der Kindheit: eine noch nicht ausgereifte Trennschärfe von libidinösen und aggressiven Impulsen. Als Erwachsene sind wir darüber hinweg, doch auf ewig gesichert ist da nichts. Kommen Stimulanzien, Gruppendynamik oder auch Erschöpfung hinzu, dann erschrecken wir mitunter, wie rasch Sehnsüchte umschlagen können. Aus dem schnellen „Du“ im Karneval kann Distanzlosigkeit werden, aus der schnellen Umarmung ein Grapschen.

 

Das Narrenfest spiegelt uns, wie vieldeutig, gar gegenpolig das Leben sich zeigt, wenn wir der Kette der Domestizierung lange Leine lassen. Mal sehnen wir uns nach Tradition, mal lockt der Stachel zur Anarchie. Heimatscholle und Exotik, Vulgäres und Elitäres, Großherzigkeit und Narzissmus schunkeln Schulter an Schulter. Lieder der Fastnacht befeuern Ausgelassenheit – „Da simmer dabei“ – und Melancholie – „Heile, heile Gänschen“. Und je prunkvoller sein Rahmen, desto lauter singt der Karneval das hohe Lied der Urwüchsigkeit. Es gehört zu den Paradoxien des Seelenlebens, dass wir uns bemalen, um uns ungeschminkt der Welt zu zeigen.

 

Im Gewand unserer Wunschrolle spüren wir Chancen zum Perspektivwechsel, zu neuen Begegnungen mit der Welt und dem eigenen Ich. Manchmal auch die Entrückung unserer selbst – mit der latenten Gefahr des Strukturzusammenbruchs.

 

Halt finden wir im Brauchkomplex. Karneval ist nicht nur „ein Fest, das sich das Volk selbst gibt“, wie Goethe über den römischen Karneval befand. Das feiernde Volk gab sich während der Jahrhunderte auch Brauchstrukturen. Die ritualisieren die Entgrenzung und binden die Fliehkräfte. Als „ein Fest des kontrollierten Kontrollverlusts“ beschreibt die französische Deutschlandkorrespondentin Cécile Calla den Karneval in Deutschland.

 

Es sind die Komitees, Verbände, Zünfte, die die Brauchkultur in den Regionen tradieren und kommunizieren. Sie haben das närrische Feuer nicht erfunden, doch sie hüten seine Flamme – auch vor dem eigenen Zerstörungspotenzial. Einfach ist das für die Ehrenamtler nicht, „denn alle Lust will Ewigkeit“. Mit der Aussicht auf Permanenz und Beliebigkeit wirbt der Kommerz vom Dorffest bis zum Luxusliner zu Ganzjahresklamauk.

 

Natürlich verkleiden sich postmoderne Menschen auch außerhalb von Karneval. Zu besichtigen ist es an Wochenenden etwa in Fußballstadien oder auf Junggesellenabschieden. Auch zum CSD, zur Mottoparty oder Gamescom-Messe geht man kostümiert. Doch das sind inselhafte Verkleidungsanlässe. Beim Volksfest Fastnacht hingegen feiert eine ganze Region. Zwar nicht jeder Einzelne, aber doch alle Alters- und Sozialgruppen – ein Kontrapunkt in fragmentierenden Gesellschaften.

 

Bleibt die Frage, ob denn die Narren selber gemäß den Codices ihrer Zünfte und Komitees leben? Vielleicht ist es wie mit der Straßenverkehrsordnung: Wir übertreten sie zigfach – aber wehe, wir hätten sie nicht!

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2020.

Wolfgang Oelsner
Wolfgang Oelsner ist analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Für seine Publikationen erhielt er den "Kulturpreisträger der Deutschen Fastnacht".
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