Kathedralen der Industrialisierung

Die sieben deutschen UNESCO-Industrieerbestätten

Auf den ersten Blick haben der Kölner Dom und die Völklinger Hütte wenig miteinander zu tun, und doch haben sie eine gemeinsame Eigenschaft: Sie sind Teil des Welterbes und stehen unter dem besonderen Schutz der Welterbekonvention der UNESCO. Über eintausend Stätten mit außergewöhnlichem Wert für die Menschheit gibt es weltweit, 46 davon sind in Deutschland zu finden. Während das Welterbe oft nur mit Kirchen, Schlössern und Altstädten assoziiert wird, wächst die Gruppe der Stätten, die ihren Ursprung in unserer Industriegeschichte haben: Nach der Aufnahme des Bergwerks Rammelsberg 1992 folgte die Völklinger Hütte 1994 in die Liste. Bis heute kamen die Zeche Zollverein (2001), das Fagus-Werk in Alfeld (2011), die Speicherstadt in Hamburg (2015), zuletzt das Augsburger Wassermanagement-System und die Montanregion Erzgebirge (beide 2019) hinzu. Diese sieben Orte zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur monumentale Kristallisationspunkte technischen Erfindergeists, sondern zugleich Katalysatoren ökonomischer, sozialer und kultureller Entwicklungen sind. An kaum einer anderen Kulturerbeform können historische Erfahrungen und Herausforderungen der Moderne für die Zukunft anschaulicher aufgefächert werden als an der Industriekultur.

 

Dass wir heute von „Industriekultur“ sprechen, ist eine Leistung der letzten Jahrzehnte. Der Begriff ermöglicht es, über die Technik und Baulichkeit der Industriestätten hinaus zu gehen und sie auch als Leuchttürme des steten strukturellen Wandels zu betrachten, ganz im Sinne des von der UNESCO vorangetriebenen weiten Kulturbegriffs. Mit der Aufnahme herausragender Beispiele der Industriekultur in das Erbe der Weltgemeinschaft hat die UNESCO den Erbebegriff um moderne Dimensionen erweitert, die wir verstärkt erarbeiten, beleuchten und vermitteln – es sind Orte des Lernens und Begreifens im Kontext von Frieden und Völkerverständigung, wie an einigen Beispielen deutlich wird:

 

Das Augsburger Wassermanagement-System wurde 2019 in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen und gehört somit zu den jüngsten deutschen Welterbestätten der Industriekultur. Während des 15. bis 17. Jahrhunderts wurde, bestehend aus Wassertürmen, Pumpen und einem stadtweiten Kanalsystem, ein funktionales urbanes Wassersystem geschaffen, das erst auf den zweiten Blick als industrielles Erbe zu erkennen ist. Besonders in Bezug auf Nachhaltigkeit, sei es im Bereich der Energiegewinnung oder Hygiene, fand Augsburg Antworten auf drängende Fragen der frühen Industrialisierung, quasi eine vorzeitige Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele.

 

Ein anderes Thema, das uns beschäftigt, kann im Kontext des Welterbes Industriekultur in seiner ganzen Dynamik historisch und gegenwärtig erfahren werden: die Migration. Im kommenden Jahr feiern wir das 20-jährige Jubiläum der Einschreibung der Zeche Zollverein in die Liste der UNESCO-Welterbestätten. Die Zechen und die Stahlindustrie des 19. und 20. Jahrhunderts beeinflussten das wirtschaftliche und soziale Miteinander entscheidend; Menschen aus den unterschiedlichsten Regionen kamen zu den Bergwerken, um vom Wohlstand und dem wirtschaftlichen Aufschwung zu profitieren. Auf Zeche Zollverein in Essen waren über die Jahrzehnte eine halbe Million Arbeiter tätig. Die Stätte trug also maßgeblich zu einem gesellschaftlichen Wandel bei und beeinflusste deutsche Integrations-, Migrations- und Identitätsgeschichte nachhaltig.

 

Das bis heute zu spürende Zusammengehörigkeitsgefühl der Kumpel und ihrer Familien hat häufig eigene Kulturformen hervorgebracht, wie etwa im Erzgebirge: Die 2019 in die Liste der UNESCO-Welterbestätten aufgenommene Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří ist eine Bergbaulandschaft, aus der festliche Traditionen der Bergparaden und -aufzüge hervorgingen, die 2016 ins Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen wurden. Sie ist zudem ein exzellentes Beispiel dafür, dass gerade auch bei Industrieerbestätten der Blick über Grenzen hinweg zu richten ist. Denn heutige Grenzen verdecken den tatsächlichen Verlauf von Erzlagerstätten ebenso wie von kulturellen, ökonomisch-politischen und historischen Bezügen. Die Stätte ist daher vorbildlich als transnationales Welterbe, mit 22 Teilgebieten in Deutschland und Tschechien.

 

Die Stätten der Industriekultur bieten auch die Gelegenheit für einen kritischen Zugang zu unserer Geschichte. Z. B. im Hinblick auf Umwelt- und Naturschutz – man denke an schwermetallhaltige Grubenwasser, Rodungen zur Holz- und Kohlegewinnung oder giftige Industrieabgase. Gleiches gilt, wenn wir auf die Arbeitsbedingungen blicken, insbesondere die der frühen Industrien oder die der dunklen Zeiten der Zwangsarbeit. Es gilt daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. Wo, wenn nicht an Welterbestätten, könnten den Besuchern neue umweltschonende Verfahren und faire Arbeitswelten besser vermittelt werden? Besucherzentren, die an vielen Welterbestätten entstehen, können hier einen entscheidenden Beitrag leisten.

 

Und schließlich hat unsere Industriegeschichte eine europäische Dimension: Die „Europäische Route der Industriekultur“ (European Route of Industrial Heritage, ERIH) macht das auf eindrückliche Weise deutlich. Sie erschließt historische Kraftwerke, Bergwerke, Mühlen oder Produktionsstätten unterschiedlichster Funktion und ist seit 2019 eine „Kulturroute des Europarats“. Industriekulturelle Landschaften und Netzwerke eignen sich ganz besonders auch für die Digitalisierung: Innovative Lösungen schaffen neue, inklusive Zugänge und werden zunehmend zentral für die Vermittlung dieses Erbes sein; gleichzeitig bleibt Barrierefreiheit eine Herausforderung für große Areale.

 

Sich ähnelnde Stätten stehen vor ähnlichen Aufgaben. Einige UNESCO-Welterbestätten mit Industrieerbegeschichte haben sich daher im „Arbeitskreis UNESCO Welterbe Industriekultur“ zusammengetan und tauschen sich zu Fachfragen der Denkmalerhaltung und -sanierung oder zur Optimierung im jeweiligen Besucherservice aus. Die Deutsche UNESCO-Kommission unterstützt solche Maßnahmen, die auch die Sichtbarkeit der Industriekultur im Welterbe erhöhen. Die erwähnten sieben deutschen Industrieerbestätten sind wegweisend. Sie sind nicht so sehr statische Monumente als vielmehr lebendige Orte der Veränderung.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.

Maria Böhmer
Maria Böhmer ist Präsidentin der Deutschen UNESCO-Kommission.
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