Welch eine Veränderung, welch ein Wandel … Industriedenkmäler, Kathedralen des Fortschritts und der mächtigen Industrieproduktion, werden zu Museen, zu Veranstaltungsorten, zu Kulturorten oder auch zu Dienstleistungszentren. Keine dampfenden Schlote, sondern rauchende Köpfe. Nicht mehr mühseliges Zutagefördern von Erzen, sondern mühsames Entwickeln von Ideen. Nicht mehr Ausbeutung von Arbeiterinnen und Arbeitern, jungen Menschen, die schon nach wenigen Jahren der Industrieproduktion von der schweren Arbeit gezeichnet sind und früh sterben, sondern hippe Lofts und akademisches Prekariat.
Das Erbe der Industriekultur ist vielschichtig. Es erinnert an vorindustrielle Formen des Bergbaus, etwa im Welterbe Rammelsberg zusammen mit der Altstadt von Goslar und dem Harzer Wasserregal. Es zeugt vom Erfinderreichtum in Deutschland schon vor der Industrialisierung, vom Reichtum, Glanz und Gloria der Städte und von bitterer Armut und Ausbeutung. Das gilt auch für andere Industriedenkmäler in Deutschland, die einerseits an den Aufstieg Deutschlands zu einer der weltweit führenden Industrienationen erinnern und andererseits sinnbildlich vor Augen führen, dass diese Produktion in Deutschland der Vergangenheit angehört. Es werden keine Steinkohle und kein Erz mehr gefördert, da die Vorräte erschöpft bzw. so unzugänglich sind, dass ein Abbau wirtschaftlich keinen Sinn macht. Und auch der Braunkohletagebau wird nicht zuletzt, um die selbst gesetzten Klimaziele einhalten zu können, in absehbarer Zeit der Vergangenheit angehören. Was bleibt, sind die ehemaligen Betriebsstätten und im Braunkohletagebau verheerende Veränderungen in der Landschaft, die mühselig renaturiert bzw. einer neuen Nutzung zugeführt werden.
Die Corona-Pandemie in diesem Jahr führt den Verlust an industrieller Fertigung in Deutschland brutal vor Augen. Deutschland, einst die Apotheke der Welt, ist auf den Import von Medikamenten angewiesen.
Maskenproduktion im eigenen Land, Fehlanzeige. Es war doch so schön und so preiswert und vor allem so scheinbar jederzeit verfügbar auf dem Weltmarkt zu haben. Textilproduktion findet vor allem in Bangladesch und anderen Ländern statt, in denen die Löhne niedrig und der Arbeitsschutz gering sind. Das industrielle Elend, das über einen sehr langen Zeitraum die Gesellschaft in Deutschland prägte, der Hunger und die Ausbeutung, wie sie in Werken von Gerhart Hauptmann, Georg Weerth, Käthe Kollwitz und anderen eindrücklich beschrieben wurde, wurde verlagert in die Länder des globalen Südens.
Bilder der heutigen Industrieproduktion, speziell in der Automobilindustrie, sind clean. Weiße Hallen, Roboter und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in schicken, sauberen Overalls. Kein Schweiß, kein Dreck, kein Ruß. Die Industriedenkmäler sind das genaue Gegenteil davon, sie sind eingefrorene Zeit, fast wie Bilder von Adolph Menzel, Ikonen einer ehemaligen Industrieproduktion, die oftmals in dunklen Werkshallen durch eine bewundernswerte technische Raffinesse eine Zeit konserviert, in der Deutschland der technische Weltmarktführer war.
Doch wie umgehen mit diesen Industriedenkmälern? Bei denjenigen, die in das UNESCO-Welterbe aufgenommen wurden, ist es noch relativ leicht. Sie haben gemäß Definition weltweite Geltung. Sie sind nicht nur von lokaler oder regionaler Bedeutung, sondern von internationaler. Es wird Zeit, dass in der Kulturförderung diese internationale Relevanz der UNESCO-Welterbestätten mit einem eigenen, ausreichend ausgestatteten Fördertitel deutlich wird. Die Bundesländer und die Sitzgemeinden sind sehr oft mit der Förderung überfordert und mit dem Welterbestatus sollte auch die Verpflichtung einhergehen, das Erbe immer wieder zu befragen und seine Präsentation zu aktualisieren. Hier muss auch bei den sieben als UNESCO-Welterbe ausgezeichneten Industriedenkmälern in Deutschland noch einiges geschehen.
Industriekultur besteht aber nicht nur aus UNESCO-Welterbestätten. Es gibt weitaus mehr ehemalige Fabrikgebäude, die ihre Funktion verloren haben, weil vor Ort nicht mehr produziert wird oder weil sie nicht mehr funktional sind und daher die Produktion in anderen Gebäuden erfolgt. Gerade mit Blick auf die Braunkohlereviere muss insbesondere unter dem Nachhaltigkeitsaspekt reflektiert werden, was mit dem Erbe der Industriekultur geschehen soll. Das kann auch heißen, von dem einen oder anderen nicht erhaltenswerten Industriegebäude Abschied zu nehmen und sich für etwas Neues zu entscheiden. Umnutzung ist eine weitere Möglichkeit. Umnutzung zu einer neuen Produktionsstätte – ganz unabhängig von der Kultur. Kulturelle Umnutzung ist eine weitere Chance. Sie sollte allerdings genau abgewogen werden. Nicht jedes Gebäude, nicht jede Industrieanlage ist für eine kulturelle Nutzung denkbar oder sinnvoll.
Eine besondere Chance der Industriedenkmäler, und zwar sowohl derjenigen, die als UNESCO-Welterbe anerkannt wurden, als auch anderer besteht darin, Arbeit zu reflektieren. Die Arbeit des Industriezeitalters mit ihrer Ausbeutung genauso wie heutige Formen der Arbeit, die ebenfalls oft auf Ausbeutung basieren. Industriearbeit hat sich dank starker Gewerkschaften und der in Deutschland verankerten Sozialpartnerschaft verändert. Die Arbeitsbedingungen wurden humanisiert, dem Arbeitsschutz kommt eine hohe Bedeutung zu. Sozialpartner handeln in Tarifverträgen die Entlohnung aus. Aus dem Proletariat hat sich eine Arbeitnehmerschaft entwickelt. Doch was ist mit jenen, die heute in Dienstleistungsberufen, insbesondere als „Selbständige“, tätig sind, mit mobilen Friseurinnen, mit den Fahrern von Lieferdiensten, mit Kosmetikerinnen, deren Betriebskosten aus der Miete eines Stuhls in einem Friseursalon bestehen, den Caterern, die aus ihrer privaten Küche heraus arbeiten. Was ist mit den Digitalarbeiterinnen und Künstlern, die sich von einem Auftrag zum nächsten hangeln müssen. Sie stellen das große Heer der Soloselbständigen. Sie sind das Prekariat in Deutschland, nicht mehr die Industriearbeiter. Eine Beschäftigung mit Industriekultur bietet die Chance, sich mit diesen Änderungen von Arbeit heute auseinanderzusetzen und von ihr zu lernen.
Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.