„Ich lebe mit der Fotografie, ich existiere“

Wolfgang Zurborn im Gespräch über Street Photography

Wolfgang Zurborn prägt mit seinen Arbeiten die „Street Photography“ seit Jahrzehnten – nicht nur in Deutschland. Doch worauf gründet seine Faszination für dieses fotografische Genre? Und wie hat sich dieses im Laufe der Jahre entwickelt? Theresa Brüheim fragt nach. 

 

Theresa Brüheim: Herr Zurborn, wie würden Sie Ihre Fotografien beschreiben? 

Wolfgang Zurborn: In meiner Fotografie kommen verschiedene Einflüsse zusammen. Zumeist wird sie als „Street Photography“ gesehen. Ein Kennzeichen dieser ist, dass man im öffentlichen Raum ungestellte, nicht inszenierte Momente fotografiert. Bei meinen Erkundungen des urbanen Raums setze ich die normalerweise ungesehenen, gewöhnlichen, banalen Dinge so in Szene, dass etwas Besonderes daraus wird. Dabei wirken meine Bilder wie Collagen, die auf vielen Ebenen die Wirklichkeit zeigen. Das ist ein Markenzeichen, dadurch sind meine Arbeiten wiedererkennbar. 

Als ich eine Ausstellung in Dallas in den USA hatte, schrieb die Zeitung Dallas News: Das Besondere der Bilder sei, dass sie einerseits die komplette Banalität des Alltags zeigen, andererseits aber wie ein Gemälde bis in die letzten Ecken durchkomponiert sind. Das bringt auf den Punkt, was meine Fotografie ausmacht. Hinzu kommt auch das Editing, was für mich sehr wichtig ist – wie man auch in meinem aktuellen Buch „Play Time“ sehen kann. Meine künstlerische Arbeit hört nicht mit dem Bild auf, sondern es ist für mich sehr wichtig, die Bilder in Büchern und Ausstellungen zusammenwirken zu lassen. Es soll eben nicht die typologische Reihung des gleichen sein, sondern ich arbeite sehr stark mit Gegensätzen, Widersprüchen, Paradoxien und Absurditäten des Alltags. Die will ich mit meinen Bildern lesbar machen. Meine Fotografie zeigt in einem hyperrealen Sinn die Wirklichkeit und zugleich auf einer anderen Ebene subjektive Fiktion. 

 

Wie gehen Sie bei Ihrer fotografischen Arbeit vor? Was macht
Ihre Arbeitsweise aus? 

Es ist nicht so, dass ich mir vorab ein klargestecktes Thema setze und dieses dann bebildere. Für mich stehen am Anfang die Bilder, die ich im Alltag entdecke, aber die natürlich auf den Millionen Bildern basieren, die man schon gemacht hat. Das heißt eben nicht, dass man bewusstlos durch die Welt läuft. Ich sage immer: sehen statt bedeuten wollen. Es geht darum, das Sehen als einen sehr komplexen Prozess zu verstehen. Die Aufgabe der Fotografie ist eben nicht, Text zu bebildern, sondern eine eigene Bildsprache zu entwickeln. 

Für „Play Time“ habe ich z. B. in Neuss fotografiert. Ich bin dann den ganzen Tag am Fotografieren, auf Aufnahme geschaltet, laufe durch Straßen und über Plätze. Dort erkunde ich das Banale, das Alltägliche, auf das wir sonst keine Aufmerksamkeit richten. So entsteht eine große Anzahl an Bildern. Danach folgt der Prozess des Auswählens und des Editierens. Aus vielen ähnlichen Bildern schäle ich die heraus, die in ihrer Visualität eine ganz eigene Kraft besitzen und die im Zusammenhang mit den anderen Bildern einen größeren Entwurf unserer zeitgenössischen Welt zeigen. 

 

Sie haben sehr früh den Weg zur Fotografie gefunden. Wie haben Sie Zugang erhalten? Und was hat Sie dazu motiviert? 

Tatsächlich hatte ich den ersten Fotokurs mit zehn Jahren. Mein Vater hat mich stark unterstützt, weil er selbst schon seit seiner Schulzeit von der Fotografie fasziniert war. Bereits im Gymnasium hatte ich einen Fotokurs, was zu der Zeit sehr ungewöhnlich war. So wurde ich früh bestärkt, was große Auswirkungen hatte. Schon in meiner Jugend habe ich stark den Einfluss der Medienwelt gespürt und mich gefragt: Wo bin ich da? Wie existiere ich?  

Für mich war Fotografie immer Weg und Mittel zu zeigen, dass ich existiere: Ich gehe raus in die Welt und sehe etwas, also belege ich es und schaffe meine eigene Sicht. Mein Zugang zur Fotografie war nie geleitet von Karrieregedanken wie „Ich will die Doppelseite im STERN“ oder „Ich will der berühmte Werbefotograf sein“. Für mich ist es dieser ureigene Instinkt: „Ich lebe mit der Fotografie, ich existiere.“ Natürlich ist es ein sehr ungewisser Beruf. Aber ich hatte irgendwann keine andere Wahl, es war Berufung. Dann habe ich in der Bayerischen Staatslehranstalt in München Ende der 1970er Jahre eine handwerkliche fotografische Ausbildung erlangt, die sehr inspiriert und künstlerisch war, auch wenn das Augenmerk auf dem Handwerk der Großbildfotografie lag. Zuerst fotografierte ich alle klassischen Themen wie Architektur und Landschaften durch. Danach wollte ich weiter studieren und ging an die Fachhochschule in Dortmund. Intuitiv war dann das Bewusstsein da, Autorenfotograf sein zu wollen. Der Begriff kam damals auf, Klaus Honnef prägte ihn. Mit der Fotografie wollte ich meine eigene Sicht auf die Welt zeigen – noch nicht ganz wissend, wie das aussehen soll. Mit der Abschlussarbeit habe ich das Otto-Steinert-Stipendium bekommen. Das war eine Bestärkung – eine finanzielle, noch stärker auch eine mentale. Der nächste wichtige Schritt führte mich nach Köln, wo ich seit 36 Jahren die Galerie Lichtblick zusammen mit Tina Schelhorn leite. Das war die Öffnung zur internationalen Fotografie. Mit der Zeit wurde auch das Selbstbewusstsein stärker, eine eigene Position entwickeln zu können, nicht im Mainstream deutscher konzeptioneller Fotografie zu sein, sondern einen eigenen Blick zu haben. Da spielt diese Arbeit in der Galerie Lichtblick eine wesentliche Rolle. 

 

Seit vielen Jahren machen Sie „Street Photography“. Wie hat sich diese Form der Fotografie im Laufe Ihrer Karriere entwickelt? 

Die Wahrnehmung von „Street Photography“ hat sich deutlich geändert. Heute kann man nicht mehr so fotografieren, wie man in den 1980er Jahren fotografiert hat. Da würde man abgeführt werden, obwohl sich die rechtliche Situation nicht wesentlich geändert hat. Bei „Street Photography“ war es immer so, dass das Recht am eigenen Bild besteht: Jeder kann verneinen, fotografiert zu werden. Auf der anderen Seite natürlich existiert das Recht, Kunst zu machen. Ein neuer Richterspruch erkennt auch „Street Photography“ als Kunstform an. Der „Street Photography“ ist immanent, dass man die Menschen nicht fragt, die man fotografiert. Ansonsten wäre es keine „Street Photography“ mehr, sondern Porträtfotografie. 

Im Lockdown habe ich meine Bilder aus den 1980er und 1990er Jahren gescannt … Tausende Negative. Damals habe ich Menschen bei Massenveranstaltungen fotografiert. Ich stand mittendrin und fotografierte die Menschen aus einem Meter Entfernung – ein sehr eigener Moment. Das ist nicht beliebig, man ist selbst nicht in der Komfortzone. Da fließen viele komplexe Überlegungen ein. Damals war es für mich wichtig, Menschen in ungestellten Momenten im Alltagsleben in meine Fotografien einzubeziehen. Das Bedürfnis war, ein Bild der Gegenwart unter Einbeziehung der Menschen zu schaffen. Zu dieser Zeit sah man im Prinzip leere Straßen und Häuserfassaden in der deutschen Fotografie. Der Mensch tauchte nur in einem gestellten Porträt auf. Im Alltag, in den Straßen waren die Menschen nicht zu sehen. Das ist nicht meine Sicht auf die Welt. Ich kann den Menschen nicht aus der Betrachtung der Welt ausschließen, ich will ihn einbeziehen. Ich habe die Arbeit damals „Menschenbilder – Bildermenschen“ genannt. 

Heute kann man das in dieser Art und Weise nicht mehr machen. In der Retrospektive ist aber genau diese Art der Fotografie für mich das stärkste Ausdrucksmittel. Da zeigt sich auch die Diskrepanz.  

In meiner aktuellen Arbeit „Play Time“ taucht der Mensch indirekter auf. Er ist immer präsent in meinen Bildern, aber seltener direkt mit dem Gesicht. Im Laufe der Zeit hat sich das nicht nur aus rechtlichen Gründen so entwickelt, es sind auch künstlerische Gründe. Ich wollte eine offenere, assoziativere, nicht direkt am Menschen orientierte Fotografie machen. Aber natürlich reflektiere ich sehr stark, was ich fotografieren kann, wie ich den Menschen zeigen kann. Anhand meiner Arbeiten kann man sowohl die Entwicklung der „Street Photography“ als auch meinen Umgang damit erkennen: von frühen Menschenbildern zu den aktuellen abstrakteren Bildern. 

 

Wenn Sie heute zum Fotografieren auf der Straße unterwegs sind, wie reagieren die Menschen auf Sie? 

Sie reagieren viel neurotischer als früher. Sobald ich meine Kamera hochhalte, kommen Reaktionen
wie: „Was wollen Sie hier fotografieren?“ Aber es ist sehr unterschiedlich in verschiedenen Ländern. In Deutschland ist es im Moment fast am schlimmsten. Hier sind die Leute sehr skeptisch und erwarten sofort, dass das Bild gegen sie gerichtet ist. Wenn ich in Georgien fotografiere, haben mich die Leute zu einem Drink eingeladen. Sie fühlen sich gewürdigt, wenn man sie fotografiert. Auch in der Türkei ging es mir so. 

Ich fotografiere nicht, um etwas gegen den Menschen zu sagen, sondern ich möchte den Menschen in seiner Alltäglichkeit einen Wert geben. Es wäre eine schreckliche Vorstellung, wenn die einzigen Bilder, die es von Menschen gäbe, jene wären, die die Menschen wie in der Werbung am Tisch sitzend zeigen. 

 

Ruft diese Abwehrhaltung, diese Scheu vor dem Fotografiert-Werden, bei Ihnen vorab eine „Schere im Kopf“ hervor? 

Für mich ist es extrem wichtig, aus dem Moment raus reagieren zu können. Fotografie ist auch eine Möglichkeit des intuitiven, instinktiven, direkten Reagierens auf die Szenerien – ohne dieses permanente Denken vorab. Daher ist keine Schere im Kopf. 

Mit meiner Fotografie möchte ich keine eindeutige Interpretation der Wirklichkeit liefern. Mit der Behauptung der Realität gerät Fotografie auch in die Gefahr, Ideologie zu transportieren. Ich will nie verstecken, dass Fotografie ein subjektives Konstrukt ist. Das ist mir sehr wichtig. Deswegen haben sich auch Arbeiten wie „Im Labyrinth der Zeichen“ entwickelt, wo ich mit Montage und Collage gearbeitet habe. Viele meiner neueren Arbeiten sind reine Fotografien, aber wirken wie Collagen. 

„Play Time“ ist für mich nicht „verstümmelt“, weil ich mir nicht mehr erlaube, den Menschen zu zeigen, sondern ich zeige eine „Human Landscape“ in einem gewissen Sinn. Durch die assoziative Bildsprache öffne ich den Fantasieraum des Betrachters. 

Wirklich gute Street Photographer aus aller Welt haben eine reflektierte
und ethische Vorstellung von dem, was sie machen. Und das ist natürlich das besonders Traurige an einer Diskussion über das Recht am eigenen Bild, die sich rein auf die rechtlichen Aspekte fokussiert. Wenn man den Menschen nicht mehr spontan und intuitiv abbilden darf, ist das ein extremer Verlust in der Fotografiekultur. 

 

Welchen Stellenwert hat „Street Photography“ als Kunstfrom? 

Für mich ist die „Street Photography“ eine Art Königsdisziplin innerhalb der Fotografie. Da sie nicht vorher geplant werden und ein sehr starkes Dokument unserer gegenwärtigen Welt liefern kann. Interessant ist, dass „Street Photography“ in deutscher Fotografie und ihrer Geschichte kaum eine Rolle spielt. Es gibt hier nur wenige Vertreter der „Street Photography“. Es gibt zwar einige bekannte Fotojournalisten, aber tatsächliche Street Photographer gibt es kaum. Mir fallen nur Chargesheimer und Heinrich Zille ein. 

Das hängt natürlich auch daran, dass der Zufall, das Nichtkontrollierte, das Nichtkonzeptionelle immer sehr negativ gesehen werden. In der amerikanischen Fotografie ist das komplett anders. Dort macht gerade der Zufall, das Zusammenspiel, das Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen in der Straße die nationale Identität aus. Das hat natürlich kulturelle, politische und gesellschaftliche Gründe. Entsprechend hat mich die Fotografie von Lee Friedlander, Garry Winogrand und Robert Frank am meisten geprägt. 

Henri Cartier-Bresson hat den Begriff des entscheidenden Augenblicks geprägt, der die Philosophie der „Street Photography“ zeigt. Der entscheidende Augenblick ist keine humorvolle
Pointe, sondern es ist der Moment, wo alles im Bild – der Raum, die Linien, die Objekte, die Menschen – zusammenkommen und eine komplexe Geschichte erzählen. Dieser Augenblick bietet die Möglichkeit, Dokumente unserer zeitgenössischen Welt zu zeigen, die einerseits sehr komplex, andererseits sehr flüchtig sind. Diese hohe Kunst, die hier in der „Street Photography“ zusammenkommt, finde ich wichtig, faszinierend und darf für mich als Kultur nicht verschwinden. Man merkt auch immer mehr, dass „Street Photography“ auch von einem breiten Publikum und innerhalb der künstlerischen Szene als eigenständige Kunstform gesehen wird. 

 

Vielen Dank. 

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/22.

Wolfgang Zurborn und Theresa Brüheim
Wolfgang Zurborn ist Fotograf. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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