Straßenfeger made in Turkey

Türkische TV-Serien erobern die Wohnzimmer weltweit

Mehmet Uksul: Herr Savcı, stimmt es, dass die türkischen TV-Serien weltweit nach den US-Serien am erfolgreichsten sind?

Timur Savcı: Ja, das ist statistisch erfasst worden. Früher lagen lateinamerikanische TV-Serien auf Platz 2. Jetzt sind es die türkischen. Diese Rangliste bezieht sich nicht auf das finanzielle Volumen, sondern auf die weltweit ausgestrahlten Stunden.

 

Was zeichnet türkische TV-Serien aus?

Türkische Serien können auf eine sehr reiche Kultur zurückgreifen. Die Themen sind so vielfältig, dass dieses Land für Produzenten und Drehbuchautoren eine unerschöpfliche Quelle ist. Unsere Kultur ist weder komplett nahöstlich, noch komplett europäisch. Es ist eine Verschmelzung aus beidem. Türkische TV-Serien verlieren sich nicht in der Oberflächlichkeit schnöder Dreierbeziehungen. Unsere Szenarien sind flott, dynamisch und mit viel Action besetzt. In den ersten Jahren konnte man die hiesigen Serien durchaus als Seifenopern bezeichnen. Heute sind sie vielfältiger und reicher.

 

Vor allem im Nahen Osten sind türkische TV-Serien sehr beliebt und in vielen Ländern zu sehen. Wie sieht es in Europa aus?

Europa ist durchaus auch ein Absatzmarkt. Unterm Strich werden türkische Serien aber in westeuropäische Länder weniger verkauft. Wenn wir jedoch die Serie Muhteşem Yüzyıl (über Süleyman den Prächtigen, Anm. d. Red.) als Beispiel nehmen: Diese Serie wurde nach Italien und Spanien verkauft. In Deutschland hat man sich auch dafür interessiert, aber wir wurden uns nicht über den Preis einig. Muhteşem Yüzyıl wurde und wird in 86 Ländern ausgestrahlt, von Japan und China bis Nord- und Südamerika sowie auf dem Balkan und in Russland. Ein paar andere Serien haben es ähnlich weit gebracht.

 

Manche Serien sind regelrechte Straßenfeger. Warum schauen die Menschen hier eigentlich so viel Fernsehen?

In Gesellschaften, die etwas verschlossener sind oder in denen das öffentliche soziale Leben schwächer ausgeprägt ist, ist das Fernsehen ein sehr wichtiges Instrument der Sozia­lisierung oder des Entertainments. Im Nahen Osten sehen die Menschen viel länger fern als anderswo. Auch in wirtschaftlich schwächeren Ländern ist die Abhängigkeit vom Fernsehen viel größer. Denn es ist fast die einzige soziale Beschäftigung, der sie so gut wie kostenlos nachgehen können.

 

Was unterscheidet US-Serien von türkischen Serien?

Für amerikanische TV-Serien muss man sich wirklich Zeit nehmen. Die sind wie kleine Brötchen, 30 bis 35 Minuten pro Folge oder maximal 45 Minuten. Man muss ihnen genau folgen, denn wenn man zwei oder drei aufeinanderfolgende Akte versäumt, dann findet man den Faden nicht mehr so leicht wieder. Die Drehbücher richten sich nach der westlichen Mentalität. Anders bei den türkischen TV-Serien: Schaut man sich das Profil der Zuschauer hier an, ist es so, dass oft die ganze Familie zusammenhockt und zuschaut. Dann kommen die Nachbarn noch dazu oder Besuch und man guckt gemeinsam. Man setzt sich zu Tisch und während des Essens wird weiter geschaut. Und wenn man mal ein paar Minuten verpasst, hat man den Faden sehr leicht wieder. Wir erzählen in den türkischen TV-Serien Geschichten von Personen, von Charakteren. Nachdem der Zuschauer ein persönliches Verhältnis oder eine gewisse Empathie für eine Person entwickelt hat, geht er mit ihr auf eine gemeinsame Reise. Da wir pro Folge 120 Minuten produzieren und das Tempo der Entwicklungen dementsprechend entschleunigt ist, verliert man nicht so schnell den Faden, wie es beispielsweise bei US-amerikanischen Serien wäre.

 

Sind türkische TV-Serien tatsächlich Exportschlager, was bringen sie der Wirtschaft?

Die TV-Serien sind finanziell gesehen kein großer Exportschlager der Türkei – momentan sprechen wir von einem Geschäftsvolumen von rund 350 Millionen US-Dollar. In sechs bis sieben Jahren sollen es eine Milliarde US-Dollar werden. Das jedenfalls streben wir an. Die Kosten für eine Folge von Muhteşem Yüzyıl beliefen sich anfangs auf umgerechnet 600.000 bis 650.000 US-Dollar. Je nach Land, dessen Einwohnerzahl und der Zuschauerquote bekommen wir für die Ausstrahlung pro Folge zwischen 5.000 und 200.000 US-Dollar.

Seitdem türkische TV-Serien global erfolgreich sind, ist das Interesse an Istanbul und der Türkei enorm gestiegen. Haben die türkischen Serien eine positive Wirkung auf den Fremdenverkehr?

Es gibt Erhebungen über den Einfluss einiger Serien auf das Interesse an einer bestimmten Stadt oder auf die Kultur und Geschichte des Landes. Als die türkischen Serien groß herauskamen – vor sechs oder sieben Jahren – stieg das Interesse an Istanbul. Das lässt sich an den Besuchszahlen des Topkapı Palastes ablesen, die um 1.200 Prozent gestiegen sind. Das ist enorm. Allein Muhteşem Yüzyıl hat das Interesse am Topkapı-Palast verfünfzigfacht. Das Interesse an Büchern über das Osmanische Reich wuchs ebenfalls. Lustig ist, dass in Russland vermehrt Kinder türkische Namen bekommen haben, weil ihre Eltern Fans der Serie Muhteşem Yüzyıl sind. Das gibt es auch in Südamerika. Wenn eine Folge unserer Serie ausgestrahlt wird, ist sie in Südamerika schnell trendy.

 

Es heißt, die Arbeitsbedingungen seien auch durch die extreme Länge jeder Folge für die Menschen am Set und auch für die Schauspieler schwierig. Da fallen Begriffe wie „Sklavenarbeit“ …

Als ich in dieses Gewerbe eingestiegen bin, waren die Serien noch nicht so kommerziell wie heute. Eine Folge hatte eine durchschnittliche Länge von 40 bis 45 Minuten. Es wurde pro Woche eine Folge gedreht. Später wurden aus jeder Folge 90 Minuten, doch der Arbeitsaufwand ist dadurch nicht unbedingt gestiegen. Wir haben nicht mehr Tage oder Arbeitsstunden aufwenden müssen als bei 45 Minuten. Das ist auch bei 120 Minuten nicht anders. Der Arbeitsaufwand bzw. die Arbeitsbedingungen sind nicht an der Länge einer Folge zu messen. In der Türkei gibt es vielleicht fünf, sechs Produktionsfirmen, die ca. 60 Prozent des Marktes beherrschen. Das sind etablierte Unternehmen, bei denen alles zu 100 Prozent legal abläuft – Steuern, Löhne, Abfindungen etc. Sicherlich gibt es auch einige „Kellerunternehmen“, über die kann ich nichts sagen. Aber bei Unternehmen wie dem unseren stimmen die Arbeitsbedingungen.

 

Türkische Serien kommen besonders gut in arabischen Ländern an. Woran liegt das?

Vielleicht sind die türkischen Serien eine Art Rollenmodell für den Nahen Osten. Aber im Grunde sind es die Stories selber, für die sich die Menschen begeistern. Sie werden zu Fans. So, wie viele Frauen für Brad Pitt schwärmen, so schwärmen sie eben auch für so manche Darstellerinnen und Darsteller der türkischen TV-Serien, oder für türkische Städte. Weil wir ein muslimisches Land sind, finden die Zuschauer in nahöstlichen Ländern die türkischen Serien kulturell vertrauter. Mit der Religion an sich hat das aber nichts zu tun. Die Zuschauer sagen nicht, „diese und jene Serie muss ich mir anschauen, weil die Schauspieler Muslime sind“ oder „die Türkei ist schließlich auch muslimisch“. Es gibt viele muslimische Länder, die TV-Serien produzieren, die nirgendwo geschaut werden. Es geht vielmehr um die Frage: Was wird erzählt? Unsere Stories sind bunt, packend und sie wecken Neugier. Jede Folge von Muhteşem Yüzyıl zieht weltweit ca. 450 Millionen Zuschauer an. Muhteşem Yüzyıl ist ein extrem gutes Beispiel. Aber auch die anderen türkischen TV-Serien werden auf einer Bandbreite von 150 bis 450 Millionen Zuschauern pro Folge angeschaut.

 

Bleiben wir bei der der Serie Muhteşem Yüzyıl. Worin genau liegt das Geheimnis ihres Erfolges?

Diese Serie erzählt eine universale Geschichte, eine Geschichte, mit der sich viele identifizieren können. Der Serie liegt mehr oder weniger der Spruch von Süleyman dem Prächtigen zugrunde: „Ich habe über die Welt geherrscht, aber es ist mir nicht gelungen, über eine Frau zu herrschen.“ So einfach ist das. Ein Imperator, der sein Reich erweitert, über drei Kontinente herrscht, bekommt seine Frau nicht in den Griff. Außerdem haben wir eine authentische Grundlage gehabt – die Geschichte der Osmanen. Wir haben das alles ein bisschen modernisiert, haben ein bisschen mit der Dekoration und den Kostümen gespielt, haben einen Stil entworfen, der in der Geschichte fußt, aber auch den Geschmack von heute trifft. Wir haben damit einen neuen Stil geschaffen. Hinzu kommt: Das Osmanische Reich war eine Supermacht zur Zeit Süleymans. Diese Supermacht hatte weltweit zu allen Reichen und Fürstentümern Kontakte, ob in Krieg oder Frieden. Unsere Geschichte berührt also sehr viele Länder. Auch das war ein Vorteil.

 

Wir haben die Sultane auch von ihren schwachen Seiten gezeigt und ich denke, wir haben etwas Gutes damit getan. Der ein oder andere Zuschauer hat sich vielleicht aufgeregt, aber viele haben recherchiert, Bücher gelesen, sich informiert. Und wenn wir mal einen Fehler gemacht haben, dann haben wir ihn korrigiert. Wir haben ja keinen Dokumentarfilm gedreht, sondern eine emotionale Geschichte erzählt. Andererseit hätte eine Doku mit Sicherheit nicht so viele Zuschauer angelockt. Immerhin wurden von Muhteşem Yüzyıl 139 Folgen gedreht über die Periode von Süleyman dem Prächtigen. Und anschließend wurden noch 60 Folgen „Köçem Sultan“ gedreht, die die Epoche von Sultan Murat IV beleuchtet.

 

Woher kommen ihre Schauspieler? Der Bedarf bei solch großem Erfolg muss doch groß sein?

Wir haben z. B. viele Schauspieler aus Deutschland engagiert – natürlich fast alles Deutsche türkischer Abstammung. Es gibt in Deutschland viele solcher Schauspieler, sehr begabt. Ich mag das. Es hat eine Phase gegeben, da habe ich alle meine Cast-Direktoren zur Talentsuche nach Deutschland geschickt. Und noch immer greifen wir darauf zurück.

Timur Savcı & Mehmet Uksul
Timur Savcı ist TV-Produzent. Die Fragen stellte Mehmet Ukşul
Vorheriger ArtikelVon besonderer Natur
Nächster Artikel„Kein Ort, dem die Mächtigen ihren Stempel aufdrücken können“