Erinnerungskultur in Räumen gedacht

Orte, die im Jubiläumsjahr des Ersten Weltkrieges entstanden

Die Erinnerungskultur ist ein wichtiger Bestandteil einer jeden nationalen Identität. Globale Ereignisse, wie der Erste und Zweite Weltkrieg, werden der Geschichte der einzelnen Länder entsprechend aus verschiedenen Perspektiven auch verschieden interpretiert. Während in Deutschland die Geschichte des Ersten Weltkrieges verblasst ist und von den Ereignissen der 1940er Jahre übertönt wurde, ist sie z. B. in Großbritannien oder Frankreich wichtiger Bestandteil der Kultur. Jedes Jahr werden viele Erinnerungsorte in Szene gesetzt, oder wie im Jahr des 100-jährigen Jubiläums 2014 neu entwickelt.

 

Erinnerung ist immer auch an ein materielles Objekt oder einen Ort geknüpft. Wenn nichts mehr da ist, fällt es schwer zu erinnern. Dort, wo Mahnmale stehen, Ereignisse symbolisch in Beton gegossen sind, Namen in Stein gemeißelt wurden, oder temporär eine Installation stattgefunden hat, wurde die gegenwärtige Erinnerung eingefroren und als Interpretation des Geschehenen oder Symbol räumlich manifestiert. Walter Benjamin schrieb, dass Erinnerung, vor allem die kollektive Erinnerung, vereint, Generationen verbindet und ein Gespür für das geteilte Erbe vermittelt. Dort, wo Menschen gemeinsam erinnern, ist das Vergangene wieder Teil der Gegenwart und wird in einem neuen Kontext beobachtet, gemeinsam reflektiert, interpretiert und bewertet. Während der Erinnerungsort physisch und symbolisch fortbesteht, verändert sich seine Bedeutungsebene, der Zusammenhang im gesamtgeschichtlichen und -gesellschaftlichen Kontext sowie die Form der Erinnerung – ob persönliche Geschichte, Infotafel oder Grabmäler. Je nach ihrer Entstehungszeit rufen Erinnerungsstätten Nostalgie hervor, heroisieren Charaktere des Geschehens oder machen ihre Besucher auf eine neue Bedeutungsebene aufmerksam, schrecken ab oder rufen zum Zusammenhalt auf.

 

Im Folgenden werden zwei Projekte vorgestellt, die sich mit der Erinnerungskultur des Ersten Weltkrieges auseinandersetzen, aber erst 2014 entstanden sind. Bei beiden Erinnerungsorten spielt der Raum eine wichtige Rolle und steht als inszenierte Situation oder bewusst kreierte Architektur im Vordergrund. Sie bringen Menschen zum Erinnern zusammen und bilden Anlaufpunkte, die anders funktionieren als die klassischen Gedenkstätten des Ersten Weltkrieges.

 

Ein und dasselbe Ereignis wird an zwei verschiedenen Orten, in Frankreich und Großbritannien, völlig unterschiedlich dargestellt. Mit Blick auf ein damals vereintes Europa – der Brexit war noch nicht angedacht – zeichnen sich anhand der Beispiele auch die verschiedenen Interessen zur Herausbildung einer gesamteuropäischen Erinnerungskultur ab.

 

Von „Poppies“ und der kunstvollen Erinnerungsform in London
Ein Beispiel für eine ausgeprägte Erinnerungskultur des Ersten Weltkrieges ist Großbritannien mit den Commonwealth-Ländern. Der Remembrance Day, der zum 11. November an das Ende der Schlacht erinnert, wird jedes Jahr zumindest auf der britischen Insel bereits Wochen zuvor im öffentlichen Raum allgegenwärtig. Angefangen bei den Mohnblumenkränzen am Fuß vieler Gedenkorte und Plätze mit einem Mahnmal, trägt auch ein Großteil der Bevölkerung rote Mohnblumen aus Stoff oder Plastik am Mantel – das nationale Symbol. Zum Gedenken der Kriegsgefallenen ist es aus dem Gedicht „Flandern Fields“ von John McCrae hervorgegangen. Die Mohnblumen stehen für die vom Soldatenblut rot gefärbten Trümmerfelder in Flandern im Norden Frankreichs, auf denen tatsächlich der Klatschmohn zu wachsen begann. Als einzige Pflanze, die die Verwüstung der Kriegsschlachten überdauerte, ging sie in die Geschichte ein und ist auch eine Referenz zum Morphium, dem Schmerzmittel, was viele Soldaten bekamen. Seit 1921 sammelt man mit dem Verkauf der „red poppy flowers“ für die Unterstützung von Veteranen.

 

Paul Cummins, ein Keramik-Künstler und Tom Pieper, ein Bühnen-Designer, griffen die Metapher der roten Felder in ihrer Kunstinstallation „Blutgetränkte Erde und Meer von Rot“, im Original „Blood swept lands and seas of red“, auf. Aus einem der Fenster des Tower of Londons floss das rote Meer aus 888.246 Keramik-Mohnblumen, wie eine Kaskade in den Burggraben, der vollständig umringt wurde. Jede einzelne Mohnblume stand für einen der britischen oder Commonwealth-Soldaten, die während des Krieges verstarben. Der Raum, die Burg und der rote Fluss wurden zum Gedenkort und vielbesuchten Highlight der Erinnerungsstätten.

 

In der britischen Presse war man sich über die Installation uneinig. Während die „Financial Times“ über den Wandel der Erinnerungskultur weg von klassischen Kriegsdenkmälern und hin zu einer künstlerischen Darstellungsweise und Entertainment der Massen berichtete, stellte „The Guardian“ die nationalistische Darstellungsweise infrage. „Was sagt es über Großbritannien aus, dass wir noch immer nur unsere eigenen Toten erinnern, nicht aber die deutschen, französischen oder russischen Verluste thematisieren?“, fragte damals der Redakteur und ehemalige Turner-Prize-Kritiker Jonathan Jones. „Außerdem stelle die Blume den Krieg als etwas Edles dar, was zwar die Motivation der Soldaten gewesen sein mag, nicht aber das was der Tod der Massen ausdrücken sollte.“

Man muss der Installation zugutehalten, dass sie in ihrer Namensgebung und Symbolhaftigkeit allgemein verständlich war und trotz der ästhetischen Erscheinung auch etwas Abschreckendes hatte, das den Krieg als negativ konnotiert. Cummins sagte nach der Ausstellung seines Werks, dass das eindrucksvollste des Events die Geschichten der über 8.000 internationalen Freiwilligen waren, die das „Pflanzen“ der Mohnblumen von Juli bis November unterstützten. Sie seien Teil der Veteranengemeinschaft oder Angehörige dieser gewesen. Trotz des nationalistisch geprägten Bildes der populären Erinnerungskultur gab es also auch eine soziale Komponente, die das gemeinsame Erinnern auf eine andere Ebene brachte, als die eines rein touristischen Spektakels. Die temporäre Installation wurde später wieder entfernt und die Poppies für 25 Pfund das Stück verkauft. Der Erlös ging an die Veteranen und deren Hinterbliebene.

 

Beton, ein guter Überblick und die räumliche Erinnerung im Norden Frankreichs
Ein ganz anderes Zeichen setzt der „Ring der Erinnerung“, ein Mahnmal für 580.000 Gefallene, die in Ablain-Saint-Nazaire am Hügel von Notre-Dame-de-Lorette ums Leben kamen. Es wurde direkt neben dem größten, 1925 errichteten Militärfriedhof erbaut und zum Jubiläum im Jahr 2014 eingeweiht. Nach der Idee des Architekten Philippe Prost sollten die ehemaligen Gegner unabhängig ihrer Nationalität, Religion oder kulturellen Hintergrunds an einem Ort symbolisch vereint und erinnert werden. Die globale Dimension des Krieges erhält hier einen ganz anderen Stellenwert als beim Londoner Beispiel.

 

Das Konzept der Erinnerungsstätte beruht auf einem Menschenkreis, bei dem sich die Teilnehmer an den Händen fassen. Es entstand ein insgesamt 328 Meter langer Ring, den man über einen Weg, der in die Erde eingelassen ist, betritt. Außen aus dunklen Betonelementen, befinden sich an der Innenseite ca. 500 bronzefarbene Edelstahltafeln, die im Zickzack wie aufgeschlagene Buchseiten wirken. Sie bilden die Namen der Gefallenen, alphabetisch aufgelistet ab. Ob Verlierer, Gewinner, Feind oder Freund während der Schlacht – im Denkmal werden die einstigen Akteure dieses Ortes vereint.

 

Schlicht, modern und sachlich zurückhaltend, liegt die architektonisch gut durchdachte Erinnerungsstätte auf einem grünen Grashügel, der den Blick über die Landschaft und ehemaligen Schlachtfelder ermöglicht. Trotz seiner klaren Formgebung und raumeinnehmenden Figur, die 192 Meter lang und 75 Meter breit ist, nimmt sich der Baukörper zurück und bietet dem Besucher einen neutralen Außenraum mit Platz für die eigene Reflexion. Teils in den Boden eingelassen, teils aufliegend und ein Drittel über die Hangkante auskragend, steht die ellipsenförmige, begehbare Struktur für Einheit und Brüderlichkeit. Der auskragende Teil des Gebäudes erinnert daran, dass Frieden nur ein Zustand eines stets fragilen Gleichgewichtes ist. Die klare architektonische Sprache des Gebäudes distanziert sich eindeutig von den heroischen Gesten der historischen Denkstätten und sucht eine objektive Vermittlung einer europäischen Erinnerungskultur. Mit diesem Mahnmal ist ein Erinnerungsort entstanden, der für die Demokratieerziehung der noch jüngeren Gesellschaft ein gutes Beispiel sein kann.

 

Ein direkter Vergleich der beiden Erinnerungsorte fällt schwer. Der eine temporär, national, symbolisch und in einen bestehenden Raum eingefügt, der andere permanent, international, objektiv wahrheitsgetreu und auf dem freien Feld einer ursprünglichen Kriegsaustragungsstätte positioniert. Vielmehr ist es bemerkenswert, dass sich Erinnerungsorte, die sich auf ein so weit zurückliegendes Ereignis beziehen, immer noch verändern und neu entstehen. Sie zeigen einen Teil der heutigen Kultur, die sich, wie unsere Erinnerung, im Laufe der Zeit weiter wandelt und zu neuen Repräsentationen mit veränderten Bedeutungen führt.

Riccarda Cappeller
Riccarda Cappeller ist Architekturjournalistin mit Fokus auf Projekten mit sozialem Hintergrund und neuen Nutzungsformen sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leibniz-Universität Hannover.
Vorheriger ArtikelErinnerungskultur aus der Nische
Nächster ArtikelSpielend sterben im Schützengraben