Tote sprechen langsam

Investigativer Journalismus und Menschenrechte in der Ukraine

Tote haben ein Recht darauf, uns ihre Geschichte zu erzählen. Sie haben ein Recht darauf, uns zu erzählen, was ihnen bei den letzten Atemzügen zugestoßen ist. Manchmal dauert es jedoch eine Weile, bevor sie zu erzählen beginnen.

 

Zwei meiner Informanten wurden getötet – gewaltsam und heimtückisch; sie wurden in der vom Krieg zerrütteten Donbass-Region in der Ukraine getötet, einer Gegend, die teilweise von russischen Truppen sowie von gewalttätigen und gesetzlosen, von Russland gesteuerten paramilitärischen Gruppen besetzt ist. Und doch waren es nicht die russischen Besatzer, die meine Informanten einschüchterten, schikanierten und mit dem Tod bedrohten; es waren Männer, die in ihren eigenen Reihen kämpften.

 

Eines der Mordopfer, ein Ukrainer, der sich freiwillig gemeldet hatte und von der ukrainischen Regierung als Ermittler in die Region geschickt worden war, erzählte mir von Kriegsverbrechen und Geldwäsche.

 

Er deckte Verbrechen auf, die von seinen eigenen „Waffenbrüdern“ begangen wurden, und bezahlte dafür ebenso wie ich. Das letzte von mir aufgezeichnete Gespräch mit meinem Informanten fand gerade einmal zwei Tage vor dessen gewaltsamer Ermordung statt.

 

Die zweite Person, die im Rahmen dieser Begebenheiten getötet wurde, wurde erst nach ihrem eigenen Tod zu meinem Informanten. Seine Freunde und Verwandten baten mich darum, einen Blick auf die von diesem Mann vor seinem Tod gemachten Aufzeichnungen zu werfen, um potenzielle Verdächtige auszumachen.

 

Warum haben sie mich damit beauftragt?
Ich bin weder Ermittler noch Regierungsvertreter. Ich bin nur ein Reporter, der vor Ort seinen Job macht. Dennoch kamen sie zu mir, nachdem alle anderen sich geweigert hatten zu helfen.

 

Die Regierungsvertreter jedoch, die vorgaben, diese Todesfälle zu untersuchen, ließen noch viel umfassendere Beweise verschwinden: Beweise über Verbrechen, Mord und Geldwäsche in den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gegenden. Beweise, die das ungeheure Ausmaß der Zusammenarbeit zwischen den vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB kontrollierten Zonen und den Gebieten unter ukrainischer Flagge belegten.

 

Tote haben ein Recht darauf, gehört zu werden. Nicht nur der Gerechtigkeit zuliebe oder um für den Schutz derjenigen zu sorgen, die noch am Leben sind. Der Hauptgrund, warum Tote ein Recht darauf haben, gehört zu werden, ist, dass wir ohne ihre Stimme unseren Bezug zur Wirklichkeit verlieren, um den diese Menschen bis zu ihrem letzten Atemzug so hart und so verzweifelt gekämpft haben.

 

Wir verlieren unseren Sinn für Gerechtigkeit, unseren Anstand und letztendlich auch unser Land, wenn wir nicht bereit sind, diesen verstummten Stimmen Gehör zu verschaffen.

 

Tote haben ein Recht auf freie Rede genau wie Lebende; sie haben ein Recht darauf, gehört zu werden, auch wenn sie zuweilen sehr langsam sprechen; auch wenn das, was sie sagen wollen, erst decodiert werden muss.

 

In diesem Fall war es die technische Ausrüstung der Toten, die ihnen eine Stimme verlieh. Es waren ihre Tablets, ihre PCs und ihre Smartphones; es waren die gelöschten Dateien, die der Öffentlichkeit niemals zugänglich gemacht werden sollten.

 

Regierungsbehörden waren zu keinem Zeitpunkt an diesen forensischen Tätigkeiten beteiligt. Allein meine Gruppe stellte Untersuchungen an.
Ich war in der Lage, mir Zugang zu den Dateien der Opfer sowie zu laufenden Ermittlungen in Zusammenhang mit einer Reihe anderer Todesfälle zu verschaffen. Die Motive, die sich aus dem bereinigten Beweismaterial auf den Geräten der Ermordeten herauszukristallisieren begannen, sind identisch oder gleichen sich: schmutziges Geld, Vortäuschung militärischer Einsätze, um von patriotischen Gruppen Gelder zu erhalten, Schmuggel und Zusammenarbeit mit den russischen Besatzern im Donbass.

 

„Du bist besessen von den Toten“, wurde mir bei meiner Rückkehr gesagt, „Kümmere dich lieber um die Lebenden“. Das bekam ich die ganze Zeit zu hören, bevor ich entlassen, öffentlich bedroht und gedemütigt sowie zum Schluss von einigen Regierungsvertretern und Offizieren gewarnt wurde: Die Zeit, in diesem Mordfall freimütig Zeugnis abzulegen, ist abgelaufen.
Tote sprechen langsam, aber wenn sie es tun, dann berichten sie von Tatsachen.

 

Daher bin in meinem zweiten Jahr im Exil noch immer besessen von „meinen Toten“ und bemühe mich weiterhin darum, ihnen eine Stimme zu geben.

 

In Kriegszeiten werden die Stimmen der Toten immer zum Schweigen gebracht. Während die Toten schweigen, verschafft sich der Blutzoll aber immer lauter Gehör.

 

Aus den neuen und neu gelöschten Dateien und Mitteilungen derer, die reden wollten, und denen man „wärmstens empfahl“, lieber den Mund zu halten, scheinen die verborgenen Beweise förmlich hervorzuschreien.
Deshalb besteht damals wie heute mein Bestreben als Schriftsteller darin, alles dafür zu tun, dass diese Stimmen Gehör finden.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2018.

Aleksei Bobrovnikov
Aleksei Bobrovnikov ist ein ukrainischer Autor und investigativer Journalist. Er entlarvte durch seine Recherchen Verbindungen zwischen einem Schmugglerring und dem ukrainischen Militär. Daraufhin erhielt er öffentlich Todesdrohungen und sah sich gezwungen, seine Heimat zu verlassen. Er ist Writers-in-Exile-Stipendiat des deutschen PEN-Zentrums.
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