Importierter Antisemitismus?

Dialog suchen, aufklären, erklären, Begegnung schaffen

Antisemitismus in Deutschland ist alltäglich geworden. Er agiert brutaler und selbstsicherer, einerlei, ob es um den klassisch-rechtsradikalen oder den linken Antisemitismus geht. Die Judenfeindlichkeit findet sich auch offen bei den Coronaleugnern, in der Wissenschaft und in der Mitte der Gesellschaft, aber auch unter Muslimen. Neuen Studien zufolge hat die Hälfte der muslimischen Menschen eine antisemitische Einstellung. Eine traurige Realität!

 

Der Versuch einer Erklärung

 

Bei muslimischen Jugendlichen in Deutschland sind vielfältige antisemitische Stereotypen zu finden. So zirkulieren seit einigen Jahren bei Jugendlichen verstärkt Verschwörungstheorien, die sich um die Herrschaft der Juden in der Finanz- und Weltpolitik drehen. Juden seien Kriegstreiber, hätten den 11. September geplant und durchgeführt, seien verantwortlich für die Corona­pandemie und den Ukraine-Krieg, Juden seien ausgefuchst, geldgierig und beherrschten die Medien. Die Hip-Hop-Szene und emotionalisierte Bilder und Videos in den sozialen Medien propagieren solche Stereotypen zusätzlich, mal unterschwellig, mal sehr deutlich. Dieses Phänomen ist keineswegs ein rein muslimisches. Viele solcher Verschwörungsnarrative sind auch in der Mehrheitsgesellschaft weit verbreitet und seit dem Ausbruch der Coronapandemie sichtbarer geworden.

 

Noch zentraler für die Erstarkung des Antisemitismus unter Jugendlichen ist aber der Nahostkonflikt: ein regionaler Konflikt, der seit der Gründung Israels in den Erzählungen, den Narrativen sowie im Alltag der meisten Menschen im Nahen Osten bis heute präsent ist. Einst brauchte die neu geschaffene Idee des Panarabismus eine gemeinsame Aufgabe und ein gemeinsames Feindbild. Israel wurde über Jahrzehnte in Syrien, im Libanon, in Jordanien, im Irak, in Ägypten und vielen anderen arabischen Ländern mit Ablehnung und Hass bedacht. Dies führte zu einer emotionalisierten Wahrnehmung des Konflikts in Schwarz-Weiß-Bildern. Es wird kaum zwischen Israelis und Juden unterschieden. Die Stimmung gegenüber Juden ist oft sehr aggressiv und die Klischees sind deutlicher ausgeprägt. In den Medien, in den Schulbüchern und im Alltag ist die Ablehnung gegenüber Israel weiter verbreitet, als man denkt

Die neo-osmanische Außenpolitik der Regierung Erdogans und ihre in den vergangenen Jahren verstärkte Orientierung an den arabischen Ländern führte dazu, dass auch unter Türkei-stämmigen Menschen in Deutschland der Staat Israel zunehmend feindlich wahrgenommen und als Feindbild dargestellt wird. All dies befördert einen unreflektierten Israel-Hass türkischer Jugendlicher, auch hier in Deutschland.

 

Darüber hinaus ist auch ein islamistisch argumentierender Antisemitismus auf dem Vormarsch. Radikale islamistische Gruppierungen sprechen oft von Juden als Feinde des Islams. In seinen ersten Jahren als Prophet versuchten Mohammed und der Koran, die Juden durch Anwerbung an sich zu binden. In dieser Zeit klangen die koranischen Verse, welche die Juden ansprachen oder ihre Geschichte darstellten, sehr versöhnend. Sowohl der Koran als auch Mohammed betonten immer wieder die Ähnlichkeiten zwischen Judentum und Islam. Als die Muslime aber die Stadt Medina eroberten und 627 n. Chr. den ersten islamischen Staat unter der Herrschaft Mohammeds gründeten, änderte sich die Beziehung und die Ansprache des Propheten zu den dort lebenden jüdischen Stämmen. Die Sprache war nun aggressiver, anklagender, enttäuschter. Es kam schließlich zu militärischen Auseinandersetzungen, weil Mohammed den in Medina ansässigen Juden vorwarf, sich mit feindlichen arabischen Gruppen verbündet zu haben. Er vertrieb einen Großteil der Juden, ließ die verbliebenen mehreren hundert jüdischen Männer töten und versklavte ihre Frauen.

 

Auch wenn es nur wenige gesicherte Belege dafür gibt, dass die Auseinandersetzung zwischen Muslimen und Juden tatsächlich so verlief wie in der muslimischen Überlieferung beschrieben, ist dieses Narrativ bis heute theologisch wie gesellschaftlich sehr präsent geblieben.

 

Doch mit der Gründung des Staates Israel und der zunehmenden Islamisierung des Nahostkonflikts durch Akteure des politischen Islam kippte die Stimmung, und alte religiöse Argumentationen lebten wieder auf. So schrieb Sayyid Qutb, der moderne Gründervater des islamischen Terrors, mehrfach von „unserem Kampf gegen die Juden“. In unterschiedlichen Artikeln begründete er Anfang der 1950er Jahre ausführlich, warum es einen theologischen Kampf zwischen Muslimen und Juden geben müsse. Es folgten regionale sowie nationale Konflikte zwischen den säkularen arabischen Staaten, die sich durch die Ideologie des Panarabismus versuchten zu definieren, und Israel wurde allmählich zu einer Grundsatzfrage der arabischen Regimes. Diese machten ihre eigene Existenz von der Fähigkeit, Israel zu besiegen, abhängig. Doch spätestens 1967 mit der erneuten Niederlage der arabischen Länder und der Eroberung von Ost-Jerusalem – einem der aufgrund der Al-­Aqsa-Moschee heiligsten Orte der Muslime – durch israelische Kräfte scheiterte der Panarabismus. Er konnte nicht liefern, was er versprochen hatte. Diese Krise nutzten die islamistischen Kräfte, um im Kampf gegen Israel die Führung zu übernehmen, und so machten sie aus dem Nahostkonflikt eine Angelegenheit des Islam überhaupt, stilisiert zu einem seit Jahrtausenden ausgefochtenen Kampf zwischen Muslimen und Juden.

 

Wer heute in historischen Aussprüchen, in Korantexten oder Hadithen Stellen finden möchte, die sich als Kampfansage gegen die Juden deuten lassen können, wird fündig. Auf israelfeindlichen Demonstrationen werden dann Parolen gerufen, wie „Khaibar, Khaibar ya Yahud, jaysh Muhammad sawfa ya’ud!“ – auf Deutsch: „Oh Juden, die Armee Mohammeds wird zurückkehren“. Die Demonstrationen beziehen sich damit auf die bereits erwähnte militärische Auseinandersetzung zwischen der Armee Mohammeds und den jüdischen Stämmen im 7. Jahrhundert und liefern so eine Rechtfertigung für den aktuellen Hass auf Juden.

 

Dieser Hass ist heilbar. Das lässt sich an den Friedensabkommen mehrerer muslimischer Länder mit Israel ablesen. In den letzten Jahren haben mehrere muslimische Gruppen freiwillig Auschwitz besucht und versuchen, über Antisemitismus aufzuklären. Auch hier in Deutschland merke ich in meiner Arbeit: Die Jugendlichen sind zu erreichen, wenn man den Dialog sucht, wenn man aufklärt und erklärt und vor allem, wenn man Begegnung schafft. Denn viele Muslime haben noch nie mit Juden gesprochen. Sie emotional zu erreichen, um die Komplexität des Nahostkonflikts darzustellen, kann einen Beitrag zu Überwindung des Judenhasses leisten.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/22.

Ahmad Mansour
Ahmad Mansour ist Geschäftsführer der Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention.
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