„Bevor wir jüdisch oder Israelis sind, sind wir Zugewanderte“

Israelis in Berlin

 

Einige von Ihnen denken nun vielleicht: „Natürlich weiß ich, dass nicht alle Israelis jüdisch und nicht alle Jüdinnen und Juden religiös sind.“ Warum wurden dann aber so viele Berichte über die israelische Impfkampagne mit Bildern von orthodoxen jüdischen Männern illustriert, wenn sie doch nur 5 Prozent der Bevölkerung ausmachen? Und warum findet sich neben Nachrichten über Israelis in Berlin regelmäßig ein Bild eines jüdischen Mannes, der auf das Brandenburger Tor blickt, so dass die Kamera seine Kippa einfangen kann – während sich laut einer Studie von 2015 knapp 85 Prozent aller Israelis in Berlin als komplett säkular verstehen?

 

Die oben zitierten Aussagen bilden nur einen Bruchteil ab. Ich hätte 1.700 Dinge aufzählen können, die Sie über Israelis in Berlin wissen sollten. Stattdessen werde ich die verbleibenden Zeilen einer Frage widmen, die häufig gestellt wird:

 

Warum fällt es so vielen Israelis schwer, sich hier der Jüdischen Gemeinde anzuschließen? Hier kommen mehrere Faktoren zusammen, die ich versuche, kurz zusammenzufassen. Erstens: Wie bereits erwähnt, sind die meisten Israelis, die nach Berlin kommen, überhaupt nicht religiös. Viele von ihnen bringen aufgrund ihrer Erfahrungen in Israel sogar eine Art Ressentiment gegen das religiöse Establishment mit. Zweitens: Diejenigen, die in Verbindung zum Judentum bleiben wollen, werden dies am liebsten auf Hebräisch tun, was für viele den natürlichsten und tiefsten Teil ihrer jüdischen Identität ausmacht. Es gibt außerhalb der Jüdischen Gemeinde mehrere hebräischsprachige Initiativen für Familien und Erwachsene, die entsprechende Angebote machen. Und drittens: In Bezug auf den öffentlichen Diskurs über Israel und das jüdische Leben in Deutschland werden Israelis oft dafür kritisiert, die lokalen sensiblen Komplexitäten nicht zu verstehen. Dies wiederum könnte sie weiter davon abhalten, sich dem religiösen Establishment anzuschließen oder sich von ihm vertreten zu lassen.

 

Aber es gibt positive Entwicklungen: SPITZ hat sich ERUV angeschlossen, dem ersten jüdischen Social Hub in Berlin, das eine wunderbare Plattform für Austausch und Zusammenarbeit zwischen liberalen israelischen und jüdischen Organisationen bietet.

 

Und damit kommen wir wieder zu unserem Ausgangspunkt: Warum zeigen Israelis in Berlin kein besonderes Interesse am 1.700-jährigen Jubiläum jüdischen Lebens in Deutschland? Weil sie sich, wie der Rest der Welt auch, mitten in einer globalen Krise befinden. Viele haben ihre Familien in Israel schon lange nicht mehr besucht – Social-Media-Beiträge zu Reisebestimmungen und gestrichenen Flügen sind derzeit weitverbreitet –, sind besorgt über ihre finanzielle Situation und über ihre Möglichkeiten, in naher Zukunft geimpft zu werden. Sorgen bereitet auch vielen, wie schwierig es geworden ist, eine Wohnung zu finden, insbesondere seit in Berlin der Mietendeckel in Kraft getreten ist. Mit anderen Worten: Bevor sie jüdisch oder Israelis sind, sind sie Zugewanderte, die versuchen, ihren Weg zu finden.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2021.

Tal Alon
Tal Alon ist die Gründerin und Herausgeberin von SPITZ, dem hebräischen Magazin aus Berlin, und Referentin der Stiftung Deutsch-Israelisches Zukunftsforum.
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