Zukunftsaufgabe Inklusion

Kultur braucht Inklusion – Inklusion braucht Kultur

These 4: Inklusion bezieht sich nicht nur auf Teilhabe vor, sondern auch auf und hinter der Bühne.

 

Kultureinrichtungen entwickeln zunehmend neue inklusive Zugänge für ihr Publikum. Hervorzuheben ist hier beispielsweise der „VERBUND INKLUSION“, ein Zusammenschluss von Museen unter der Projektleitung der Bundeskunsthalle, die unter anderem Tastführungen für Sehbehinderte entwickelte und wo Originale mit Handschuhen ertastet werden können.

 

Im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention reicht es jedoch nicht aus, gleichberechtigte Zugänge für das Publikum zu ermöglichen, sondern diese müssen auch auf und hinter der Bühne geschaffen werden. Das bedeutet beispielsweise auch Barrierearmut hinter den Kulissen, das konsequente Anwenden von Nachteilsausgleichen an künstlerischen Hochschulen oder die Erweiterung von Ausbildungsgängen um neue künstlerische Ausdrucksformen wie dem Rollstuhltanz. Es bedeutet auch – innerhalb der Kulturellen Bildung – inklusive künstlerische Produktionszugänge zu schaffen, beispielsweise Tanzprojekte mit und ohne Rollstuhl oder Gebärdenchöre.

 

These 5: Der Kulturbereich ist für eine inklusive Praxis prädestiniert.

 

Innerhalb des professionellen Kulturbereichs gibt es immer wieder Befürchtungen, dass eine inklusive Öffnung des Arbeitsmarkts zu einem Qualitätsverlust führt, aber diese Sorge ist unberechtigt: Denn im Gegensatz zum Sport bedarf es im Kulturbereich keiner Paralympics. Ausnahmekünstler wie Thomas Quasthoff, Peter Radtke oder Gerda König haben es, trotz fehlender barrrierearmer Ausbildungsstrukturen, auf die professionelle Weltbühne geschafft.

 

Denn es gibt kein „richtig“ oder „falsch“, keine körperliche Norm, der es im Umgang mit den Künsten bedarf. Der Klang der Musik ist entscheidend, nicht, ob er mit dem Zeh oder Finger erzeugt wurde. Viel entscheidender ist, dass die Strukturen in der kulturellen Bildung und künstlerischen Ausbildung inklusiv aufgestellt werden, damit Talente mit und ohne Behinderung auch angemessen gefördert werden.

 

 

These 6: Der Kulturbereich profitiert von einer inklusiven Praxis.

 

Von einem Kulturbereich, der sich inklusiv aufstellt, profitieren nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern auch die Künste. Denn sie werden um neue Spiel- und Ausdrucksformen wie Gebärdenchöre, Rollstuhltänzer oder beispielsweise der Perspektive einer blinden bildenden Künstlerin bereichert.

 

So stößt es aus heutiger Perspektive auf Verwunderung, dass es eine Zeit gab, in der Frauen auf der Bühne ausschließlich von Männern gespielt wurden. Denn mit der Präsenz von Schauspielerinnen seit dem 17. Jahrhundert hat sich die theatrale Ausdruckskunst deutlich erweitert.

 

Es bleibt zu hoffen, dass es irgendwann eine Zeit geben wird, in der es auf Verwunderung stößt, dass es einmal eine Zeit gegeben hat, in der Menschen mit Behinderung auf der Bühne ausschließlich von Menschen ohne Behinderung gespielt wurden.

 

These 7: Neue kulturelle Narrative können gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse der Inklusion beschleunigen.

 

Der Kulturbereich ist ein Spiegel des gesellschaftlichen Zeitgeistes. Er kann zugleich mit seiner Kraft der Fiktion Transformationsprozesse anstoßen, indem er durch das Bilden von freien Diskursräumen das „Unmögliche“ denkbar werden lässt. Er kann die Perspektive auf Frauenbilder und Geschlechter verändern, von Effie Briest über Pippi Langstrumpf bis hin zu Calliope.

 

Wenn daher Menschen mit und ohne Behinderung sich gleichberechtigt auf Bühnen, Kinoleinwänden und in Filmen begegnen, wenn Drehbücher hier Stereotype aufbrechen und mit dem Rollenbild von Menschen mit Behinderung nicht nur Defizite, sondern vor allem ihr Potenzial verbinden, ähnlich wie dies aktuell zunehmend bezogen auf Menschen mit Migrationshintergrund beobachtet werden kann, dann hat dies eine Signalwirkung; verändert Haltungen in der Gesellschaft gegenüber dem Phänomen „Behinderung“ und kann so gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse beschleunigen.

 

Fazit: Zur Interdependenz von

Kultur und Inklusion

 

Dass Kultur Inklusion braucht, manifestiert sich vor allem an zwei Aspekten: Erstens an der schon genannten Erweiterung künstlerischer Ausdrucksformen. Ohne neue Impulse erschöpft sich langfristig künstlerisches Repertoire. Zweitens zeichnet sich ein gesellschaftliches Umdenken ab: Themen der Diversität und Inklusion gewinnen an Bedeutung. Damit ist Inklusion eine der zentralen Zukunftsaufgaben unserer Gesellschaft. Die Künste als kreativer Motor gesellschaftlicher Entwicklungen können hier ihr Innovationspotenzial deutlich machen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.

Susanne Keuchel
Susanne Keuchel ist ehrenamtliche Präsidentin des Deutschen Kulturrates und Hauptamtlich Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW.
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