„In Deutschland muss ich mich häufiger erklären“

Ninia Binias über Mode, Kultur und Inklusion

Gegen Blicke, Sprüche oder andere Taktlosigkeiten zeigen Sie sich heute relativ immun. Auch mit Ihrem Künstlernamen Ninia La Grande gehen Sie spielerisch mit Ihrer Körpergröße um. Ist das Ihr Umgang mit solchen Momenten? Das Thema nehmen Sie ja dennoch ernst …

Ja, absolut. Das Thema nehme ich ernst. Auch bei mir gibt es Tage, an denen es mich trifft, wenn jemand einen doofen Spruch macht oder mich schief ansieht. Mittlerweile aber bin ich Mutter, fast 38 Jahre alt. Wir alle werden älter, egal ob kleinwüchsig oder nicht. Ich bin gefestigt in mir selbst und in meinem Umfeld; ich habe meinen Umgang damit gefunden. Wenn man über eine Taktlosigkeit aber wütend oder traurig ist, darf das auch okay sein.

Wenn ich mir das anschaue, was viele junge kleinwüchsige Menschen erzählen, merke ich: Sie hören die gleichen Sprüche wie ich vor 20 Jahren. Mir werden dafür heutzutage andere Themen entgegengeschleudert. Man sieht mir ja an, dass ich erwachsen bin, keiner denkt: Da kommt ein kleines Kind. Heute aber werden mir Fragen gestellt, wie ich als kleinwüchsige Frau Mutter werden konnte beispielsweise. Die Themen ändern sich einfach. Aber: Je älter ich werde, desto weniger trauen sich die Menschen auch, ganz offen „scheiße“ zu sein.

 

In einem Zeitungsinterview erzählen Sie von einer Situation in New York. Eine Frau kommt auf Sie zu und Sie denken: Oh Gott, was will die von mir? Die Frau macht Ihnen ein Kompliment für Ihre Brille und Sie sind erleichtert. Sind Sie schon so geprägt, dass Sie in solchen Momenten mit dem „Schlimmsten“, mit einem erneuten Übergriff, rechnen?

Ja, daran erinnere ich mich. Ich habe das auf jeden Fall. Wenn Menschen unerwartet auf mich zukommen, denke ich manchmal: „Oh je, was kommt jetzt?“ Weil ich schon so viele kuriose Momente erlebt habe. Eine innere Maschinerie. Sie schaltet Warnsignale an, die mir sagen, dass ich eventuell gleich reagieren oder kontern muss. Und dann sagt der Mensch: „Hey, ich folge dir auf Instagram, cool!“ Dann atme ich auf und denke: Ach so, es war nur das. Die Situation mit der Frau in New York war ein Schlüsselmoment für mich, in dem vieles von mir abfiel. Es hat mich lässiger gemacht.

 

Wie war es danach, als Sie wieder nach Deutschland zurückgereist sind?

Es gab einen erneuten Bruch. Mir erzählen viele andere Menschen mit Behinderung, dass sie diesen Bruch nach Reisen in den USA oder in Kanada kennen. Dort sind die Menschen zwar oft etwas oberflächlicher, aber auch selbstverständlicher im Umgang mit Menschen mit sichtbarer Behinderung. Entsprechende Gesetze dort gibt es schon länger; inklusives Leben ist dort schon mehr angekommen als hier.

 

Inwiefern?

Es gibt ja den amerikanischen „Americans with Disabilities Act“, der vieles vorschreibt. Diese Vorgaben helfen Menschen in der Gesellschaft einander zugewandter zu begegnen. Es hilft mir, wenn jemand zunächst über die Behinderung hinwegsieht und erst mal schaut, was ich möchte und mitbringe. Zumindest im Service­bereich habe ich das sehr positiv als Touristin erlebt. In Deutschland habe ich häufiger das Gefühl, mich erklären zu müssen.

 

Im ersten Moment also begrüßen Sie ein „positives Ignorieren“ der Behinderung. Im zweiten Moment aber hilft es, zu fragen, was Sie brauchen?

Ja. So wie die Lehrerin, die mir den Hocker in der Schule gegeben hat. Ich empfinde solche Fragen nicht als beleidigend. Mir ist ja bewusst, dass man sieht, dass ich klein bin. Wenn mir jemand aufmerksam eine solche Frage stellt, freue ich mich. Einmal war ich beim Kölner Treff. Die Redakteurin hatte, ohne Kommentar, einen Hocker in meine Garderobe gestellt, damit ich mich besser im Spiegel anschauen konnte. Eine Situation, die mir sehr positiv aufgefallen ist, weil das ganz selbstverständlich mitgedacht wurde, ohne es groß anzusprechen. Ich freue mich darüber. Für mich fühlt sich solch ein Hocker auch ganz normal an – auch jetzt gerade steht einer unter meinen Füßen am Schreibtisch.

 

In der Medienlandschaft zeigen Sie, Frau Binias, viel Sichtbarkeit und Präsenz. Je häufiger das der Fall ist, desto vertrauter und „normaler“ wird das Thema Inklusion. Für ihr Engagement wurden Sie schon mehrfach ausgezeichnet – unter anderem mit dem Stadtkulturpreis des Freundeskreises Hannover. Sie strahlen eine besondere Leichtigkeit und Positivität aus. Würden Sie sagen, das zeichnet Ihr Engagement aus?

Menschen spiegeln mir oft meinen Humor. Zumindest habe ich das Gefühl, ich gehe auch mit Themen, die Angst oder unangenehme Gefühle auslösen können, humorvoll um. Ich glaube, wenn wir diese Dinge nicht ansprechen, bringen wir sie auch nicht voran. Manchmal werden mir wirklich unangenehme Fragen gestellt, zur Schwangerschaft oder wie das in der Liebe mit meinem Partner klappt. Das sind übergriffige Themen, vor allem wenn sie von Menschen kommen, die mich nicht kennen. Und trotzdem merke ich: Es sind Fragen, die viele beschäftigen. Wenn ich nichts dazu sage, werden diese Fragen auch die nächsten 20 Jahre noch gestellt. Dagegen möchte ich etwas tun. Wenn ich jetzt sagen kann, dass es mit meinem Partner wunderbar funktioniert, muss man das vielleicht nicht mehr jeden kleinwüchsigen Menschen fragen.

 

Und Humor hilft dabei …

Ja, die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen, hilft, dass das Belehrende wegfällt. Vielen Menschen fällt es dann leichter zuzuhören. Auch in Poetry-Slam-Texten ist es für Menschen schön, wenn sie danach nicht ein schlechtes Gewissen mit nach Hause nehmen. Humor hilft, schwierige Themen annehmbar zu machen und trotzdem Lerneffekte zu gestalten. Für mich ein guter Weg.

 

Auch Eltern von kleinwüchsigen Kindern melden sich bei Ihnen …

Ja, gerade jetzt hat mir die Mutter einer Zweitklässlerin geschrieben. Sie findet toll, was ich mache, und erzählte, dass es ihrer Tochter gut gehe. Trotzdem fragte sie, was sie mal machen soll, falls ihre Tochter mal blöde Sprüche hören muss. Solche Fragen sind für mich ein wunderbares Feedback. Sie zeigen mir, dass ich präsent bin und Ansprechpartnerin sein kann. Dieser Austausch hat möglicherweise meinen Eltern damals gefehlt.

 

Frau Binias, welche Projekte folgen als Nächstes auf Ihrer Liste?

Gerade haben wir die zweite Staffel des Podcasts „All inclusive“ fertiggestellt. Eine dritte Staffel ist im Gespräch. Nach wie vor schwirrt mir auch die Idee eines Kinderbuches im Kopf herum. Schon seit Langem suche ich eines mit einer kleinwüchsigen Protagonistin. Bislang habe ich keines gefunden. Bedeutet: Einer sollte es schreiben. Vielleicht kann ich dieser Jemand sein. Und ansonsten freue ich mich auf meine Sommerpause.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.

Ninia Binias & Sandra Winzer
Ninia Binias ist Moderatorin, Autorin und Podcasterin. Sandra Winzer ist ARD-Journalistin beim Hessischen Rundfunk.
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