Ninia Binias & Sandra Winzer - 1. September 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Inklusion & Kultur

„In Deutschland muss ich mich häufiger erklären“


Ninia Binias über Mode, Kultur und Inklusion

Sie ist Geschäftsführerin des Büros für Popkultur in Hannover, bekannte Poetry Slammerin, produziert zahlreiche Pod­casts unter anderem für Aktion Menschen, moderierte in diesem Jahr den Grimme Online Award und zählte 2020 zum Reporterteam von ZDF WISO … Im Gespräch mit Sandra Winzer spricht Ninia Binias aka „Ninia LaGrande“ nicht nur über ihre zahlreichen Tätigkeiten, sondern auch über Inklusion in Mode, Kultur und Gesellschaft.

 

Sandra Winzer: Liebe Frau Binias, Sie sind Bloggerin, Podcasterin, Moderatorin … – haben fast unübersichtlich viele Jobs. Als was bezeichnen Sie sich selbst?

Ninia Binias: Ich mache alles, was mit Worten zu tun hat – ich bin Moderatorin, Autorin und Podcasterin.

 

Ihr festes Standbein in der Medien- und Kulturlandschaft haben Sie sich erarbeitet. Die Themen, für die Sie vor allem stehen, sind Feminismus, Inklusion, Politik und Mode. Warum sind diese Ihnen besonders wichtig?

Das ist mit der Zeit gewachsen. Ich selbst bin kleinwüchsig. Da liegt es nahe, dass ich mich mit anderen Menschen vor allem über Social Media vernetze. Mit Menschen, die ähnliche Herausforderungen im Alltag erleben. Mein Wissen und mein Interesse im Bereich Inklusion habe ich so geschärft. Der Prozess ist nie abgeschlossen. Sowohl für mich selbst als auch für andere ist es wichtig, dass wir uns für Menschen mit Behinderung einsetzen. Das geht nicht, ohne dass man sich auch für politische Prozesse interessiert. Ähnlich ist es mit der Mode. Sie wird als Thema zwar oft abgewertet. Aber ich finde Mode, gerade als kleinwüchsige Frau, spannend. Ich stelle Fragen wie: Was kann ich aus mir machen? Was kann ich gut tragen?

 

Warum haben Sie das Gefühl, Mode werde abgewertet?

Ich glaube, Mode ist noch immer ein Themenfeld, von dem man schnell von dem „Schönen“ und vermeintlich Weiblichen spricht. Viele denken, sie sei ein Thema, das wenig politisch ist, nach dem Motto: „Ach, die beschäftigt sich mit Mode – also hat sie sonst nichts im Köpfchen und kauft gern ein.“ Ich finde aber, Mode ist sehr politisch.

 

Sie sagen, Inklusion ist ein Prozess, der niemals abgeschlossen ist. Was genau meinen Sie damit?

Wenn man mit Unternehmen oder Politikern spricht, die sich mit Inklusion beschäftigen, wollen sie oft gern eine To-do-Liste haben, auf der genau steht, was als Nächstes zu tun ist. Wenn es etwa darum geht, ein Unternehmen oder eine Kita inklusiv zu machen. Das geht leider nicht. Inklusion ist nicht allgemeingültig, sie wird nicht aufhören. Man kann immer Dinge optimieren. Es reicht auch nicht, nur die Bordsteine abzusenken und Stufen wegzulassen. Vielmehr geht es bei Inklusion um die Frage, wie wir das Leben für alle gemeinsam besser machen können.

 

Gilt das für Sie auch für den Kultur- und Modebereich?

Ja. Wenn wir inklusiv leben wollen, betrifft das alle Bereiche. Die Kultur hat in vielen Fällen noch einen recht elitären Zugang. Inklusion hört hier oft schon bei Gebäuden auf – bei Theatern oder Bühnen, die meist nicht zugänglich sind. Es ist für mich nicht inklusiv, wenn mal ein Mensch mit Behinderung auf der Bühne steht. Inklusiv ist Kultur für mich dann, wenn auch in der Regie oder in der Technik Menschen sitzen, die eine sichtbare oder nicht sichtbare Behinderung haben. Und den Zugang zu Kultur zu haben – das hat wiederum viel mit Bildung zu tun. Wenn wir also in den Schulen nicht inklusiv sind, versperren wir schon hier Kindern mit Behinderung den Weg, es später mal in die Kultur zu schaffen.

 

Wie ist das im Bereich Mode?

Im Bereich Mode herrschen noch immer veraltete Schönheitsideale vor. Hier wünsche ich mir mehr Modelle mit sichtbarer Behinderung, die zeigen: Ich kann das auch machen – Mode wird auch für mich gemacht. Hier sind wir noch nicht angekommen.

 

In Ihrem schulischen Werdegang hatten Sie Glück – Inklusion war kein Thema, Sie besuchten, wie alle anderen auch, die Schule. Wäre das das Ideal? Dass Inklusion so normal wird, dass sie nicht mehr thematisiert werden muss?

Lange dachte ich, das wäre das Ideal. Mittlerweile sehe ich das anders. Der Idealzustand ist mittlerweile für mich: Jeder kann offen und ohne Verurteilungen über die eigenen Bedürfnisse sprechen. Würden wir das Wort Inklusion nicht mehr in den Mund nehmen und Menschen nicht mehr erklären, welche Art von Behinderung und Bedürfnisse sie haben, können wir kein inklusives Umfeld schaffen. Wir müssen darüber sprechen.

 

Was brauchen wir dafür?

Für mich wäre es ein großer Schritt, wenn wir sagen: Wir hören Menschen mit Behinderung zu und fragen nach. In der Grundschule hat mich meine Lehrerin damals gefragt: „Was brauchst du, um dich hier wohlzufühlen?“ Ich sagte: „Einen Hocker unter meinen Füßen und die Schulbücher kann ich nicht alle tragen.“ In meinem Fall waren das einfache Dinge, um mir den Alltag zu erleichtern, das ist sicher nicht bei jedem Menschen so. In Deutschland hört man leider auch oft: „Puh, das ist schwierig und aufwendig. Und teuer, das können wir nicht umsetzen.“ Wenn wir diese Haltung überwinden, könnte uns das viel bringen.

 

Bewusstes Zuhören statt Ausblenden …

Ja, genau.

 

In Ihrem Alltag waren auch Sie immer wieder Unverschämtheiten und blöden Fragen ausgesetzt. In Ihrem Buch „Von mir hat er das nicht!“ erzählen Sie von Menschen, die Sie ungefragt fotografieren und das Gefühl vermitteln, eine „Attraktion in einem eigenen Holidaypark namens Alltag“ zu sein. Nehmen Sie das in der heutigen Medien- und Kulturlandschaft immer noch so wahr?

Vor allem in der Medien- und Kulturlandschaft hat sich viel getan. Zwar ist es in Redaktionen, auf Bühnen oder in Theaterhäusern noch nicht total inklusiv. Aber: Man kann sich nicht mehr alles erlauben. Das Bewusstsein für Diversität und eine Fehlerkultur diesbezüglich ist da. Es wird viel darüber gesprochen. Und das ist ein Anfang. Inklusion lässt sich nicht von heute auf morgen umsetzen. Obwohl es so sein müsste. Die UN-Behindertenrechtskonvention schreibt es vor, dafür hat sich Deutschland 2019 verpflichtet. Es hat sich viel getan im Bereich Inklusion. Trotzdem haben wir einen weiten Weg vor uns.

Gegen Blicke, Sprüche oder andere Taktlosigkeiten zeigen Sie sich heute relativ immun. Auch mit Ihrem Künstlernamen Ninia La Grande gehen Sie spielerisch mit Ihrer Körpergröße um. Ist das Ihr Umgang mit solchen Momenten? Das Thema nehmen Sie ja dennoch ernst …

Ja, absolut. Das Thema nehme ich ernst. Auch bei mir gibt es Tage, an denen es mich trifft, wenn jemand einen doofen Spruch macht oder mich schief ansieht. Mittlerweile aber bin ich Mutter, fast 38 Jahre alt. Wir alle werden älter, egal ob kleinwüchsig oder nicht. Ich bin gefestigt in mir selbst und in meinem Umfeld; ich habe meinen Umgang damit gefunden. Wenn man über eine Taktlosigkeit aber wütend oder traurig ist, darf das auch okay sein.

Wenn ich mir das anschaue, was viele junge kleinwüchsige Menschen erzählen, merke ich: Sie hören die gleichen Sprüche wie ich vor 20 Jahren. Mir werden dafür heutzutage andere Themen entgegengeschleudert. Man sieht mir ja an, dass ich erwachsen bin, keiner denkt: Da kommt ein kleines Kind. Heute aber werden mir Fragen gestellt, wie ich als kleinwüchsige Frau Mutter werden konnte beispielsweise. Die Themen ändern sich einfach. Aber: Je älter ich werde, desto weniger trauen sich die Menschen auch, ganz offen „scheiße“ zu sein.

 

In einem Zeitungsinterview erzählen Sie von einer Situation in New York. Eine Frau kommt auf Sie zu und Sie denken: Oh Gott, was will die von mir? Die Frau macht Ihnen ein Kompliment für Ihre Brille und Sie sind erleichtert. Sind Sie schon so geprägt, dass Sie in solchen Momenten mit dem „Schlimmsten“, mit einem erneuten Übergriff, rechnen?

Ja, daran erinnere ich mich. Ich habe das auf jeden Fall. Wenn Menschen unerwartet auf mich zukommen, denke ich manchmal: „Oh je, was kommt jetzt?“ Weil ich schon so viele kuriose Momente erlebt habe. Eine innere Maschinerie. Sie schaltet Warnsignale an, die mir sagen, dass ich eventuell gleich reagieren oder kontern muss. Und dann sagt der Mensch: „Hey, ich folge dir auf Instagram, cool!“ Dann atme ich auf und denke: Ach so, es war nur das. Die Situation mit der Frau in New York war ein Schlüsselmoment für mich, in dem vieles von mir abfiel. Es hat mich lässiger gemacht.

 

Wie war es danach, als Sie wieder nach Deutschland zurückgereist sind?

Es gab einen erneuten Bruch. Mir erzählen viele andere Menschen mit Behinderung, dass sie diesen Bruch nach Reisen in den USA oder in Kanada kennen. Dort sind die Menschen zwar oft etwas oberflächlicher, aber auch selbstverständlicher im Umgang mit Menschen mit sichtbarer Behinderung. Entsprechende Gesetze dort gibt es schon länger; inklusives Leben ist dort schon mehr angekommen als hier.

 

Inwiefern?

Es gibt ja den amerikanischen „Americans with Disabilities Act“, der vieles vorschreibt. Diese Vorgaben helfen Menschen in der Gesellschaft einander zugewandter zu begegnen. Es hilft mir, wenn jemand zunächst über die Behinderung hinwegsieht und erst mal schaut, was ich möchte und mitbringe. Zumindest im Service­bereich habe ich das sehr positiv als Touristin erlebt. In Deutschland habe ich häufiger das Gefühl, mich erklären zu müssen.

 

Im ersten Moment also begrüßen Sie ein „positives Ignorieren“ der Behinderung. Im zweiten Moment aber hilft es, zu fragen, was Sie brauchen?

Ja. So wie die Lehrerin, die mir den Hocker in der Schule gegeben hat. Ich empfinde solche Fragen nicht als beleidigend. Mir ist ja bewusst, dass man sieht, dass ich klein bin. Wenn mir jemand aufmerksam eine solche Frage stellt, freue ich mich. Einmal war ich beim Kölner Treff. Die Redakteurin hatte, ohne Kommentar, einen Hocker in meine Garderobe gestellt, damit ich mich besser im Spiegel anschauen konnte. Eine Situation, die mir sehr positiv aufgefallen ist, weil das ganz selbstverständlich mitgedacht wurde, ohne es groß anzusprechen. Ich freue mich darüber. Für mich fühlt sich solch ein Hocker auch ganz normal an – auch jetzt gerade steht einer unter meinen Füßen am Schreibtisch.

 

In der Medienlandschaft zeigen Sie, Frau Binias, viel Sichtbarkeit und Präsenz. Je häufiger das der Fall ist, desto vertrauter und „normaler“ wird das Thema Inklusion. Für ihr Engagement wurden Sie schon mehrfach ausgezeichnet – unter anderem mit dem Stadtkulturpreis des Freundeskreises Hannover. Sie strahlen eine besondere Leichtigkeit und Positivität aus. Würden Sie sagen, das zeichnet Ihr Engagement aus?

Menschen spiegeln mir oft meinen Humor. Zumindest habe ich das Gefühl, ich gehe auch mit Themen, die Angst oder unangenehme Gefühle auslösen können, humorvoll um. Ich glaube, wenn wir diese Dinge nicht ansprechen, bringen wir sie auch nicht voran. Manchmal werden mir wirklich unangenehme Fragen gestellt, zur Schwangerschaft oder wie das in der Liebe mit meinem Partner klappt. Das sind übergriffige Themen, vor allem wenn sie von Menschen kommen, die mich nicht kennen. Und trotzdem merke ich: Es sind Fragen, die viele beschäftigen. Wenn ich nichts dazu sage, werden diese Fragen auch die nächsten 20 Jahre noch gestellt. Dagegen möchte ich etwas tun. Wenn ich jetzt sagen kann, dass es mit meinem Partner wunderbar funktioniert, muss man das vielleicht nicht mehr jeden kleinwüchsigen Menschen fragen.

 

Und Humor hilft dabei …

Ja, die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen, hilft, dass das Belehrende wegfällt. Vielen Menschen fällt es dann leichter zuzuhören. Auch in Poetry-Slam-Texten ist es für Menschen schön, wenn sie danach nicht ein schlechtes Gewissen mit nach Hause nehmen. Humor hilft, schwierige Themen annehmbar zu machen und trotzdem Lerneffekte zu gestalten. Für mich ein guter Weg.

 

Auch Eltern von kleinwüchsigen Kindern melden sich bei Ihnen …

Ja, gerade jetzt hat mir die Mutter einer Zweitklässlerin geschrieben. Sie findet toll, was ich mache, und erzählte, dass es ihrer Tochter gut gehe. Trotzdem fragte sie, was sie mal machen soll, falls ihre Tochter mal blöde Sprüche hören muss. Solche Fragen sind für mich ein wunderbares Feedback. Sie zeigen mir, dass ich präsent bin und Ansprechpartnerin sein kann. Dieser Austausch hat möglicherweise meinen Eltern damals gefehlt.

 

Frau Binias, welche Projekte folgen als Nächstes auf Ihrer Liste?

Gerade haben wir die zweite Staffel des Podcasts „All inclusive“ fertiggestellt. Eine dritte Staffel ist im Gespräch. Nach wie vor schwirrt mir auch die Idee eines Kinderbuches im Kopf herum. Schon seit Langem suche ich eines mit einer kleinwüchsigen Protagonistin. Bislang habe ich keines gefunden. Bedeutet: Einer sollte es schreiben. Vielleicht kann ich dieser Jemand sein. Und ansonsten freue ich mich auf meine Sommerpause.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.


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