Als Bürgerschaftliches Engagement wird oft das freiwillige, nicht allein auf finanzielle Vorteile gerichtete, das Gemeinwohl fördernde Engagement von Bürgern zur Erreichung gemeinsamer Ziele bezeichnet, wobei im Gegensatz zum hoheitlichen Handeln der Verwaltung oder des Staates hier die Bürger etwas selber in die Hand nehmen.
Basierend auf den Ergebnissen und Empfehlungen des ersten Berichts der Enquete-Kommission „Bürgerschaftliches Engagement“ von 2002 umfasst diese bis heute oft gebräuchliche Begriffsverwendung die spezifischeren Begriffe wie Ehrenamt, Selbsthilfe, politische Partizipation, politischer Protest oder freiwillige soziale Arbeit und bringt sie in einen konzeptionellen Zusammenhang.
Laut dem letzten Freiwilligensurvey über das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) von 2014 sind ca. 30 Millionen Menschen ehrenamtlich tätig – Sport, Kultur, Soziales, Umwelt; nach Erhebungen im Rahmen von Zivilgesellschaft in Zahlen (ZiviZ) von 2018 gibt es in Deutschland ca. 600.000 eingetragene Vereine. Es handelt sich dabei oft um Strukturen wie Vereine und Bürgerinitiativen, aber auch andere Organisationen, die eine „feste“ Rechtsnatur haben und als gemeinnützig anerkannt sind. Dazu gehören z. B. auch Kirchen und andere religiöse Einrichtungen und die vielfältigen Bereiche der staatlichen oder kommunalen Einrichtungen, Verbände, Parteien und Gewerkschaften sowie privaten Einrichtungen und Stiftungen.
Die Bindungskraft traditioneller Engagementformen wird unter anderem an folgenden Punkten festgemacht:
• Gesellschaftliche Akzeptanz
• Vorteile und Nutzen für Beruf
• Soziales Umfeld
• Freundeskreis
• Individuelle Bestätigung
• Sinnvolle Freizeitgestaltung
• Festigung und „Leben“ einer eigenen solidarischen Grundeinstellung
In diesen Bereichen ist seit Jahren eine Stagnation und oft sogar Rückgang des Engagements der Bürger festzustellen. Zunehmend findet bürgerschaftliches Engagement in anderer, oft nicht gebundener Form im Internet statt: In sozialen Netzwerken werden politische und soziale Aufrufe gestartet und von den Usern verbreitet.
Zumeist unter dem Druck gesellschaftlicher Prozesse und Anforderungen war und ist die Zivilgesellschaft mit allen ihren etablierten und „neuen“ Strukturen gefordert und hat in vielen Bereichen aktiv und kreativ zur Bewältigung der Situationen beigetragen. Waren es ab den Jahren 2015 die Aufnahme, Versorgung und Integration von Flüchtlingen, so sind es ab März 2020 die immensen Herausforderungen im Rahmen der Auswirkungen der Corona-Pandemie, die alleine nicht zu lösen sind.
Darin zeigt sich auch die Bedeutung einer aktiv agierenden Zivilgesellschaft als wichtigen Motor zur Bewältigung der Herausforderungen sowie zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes und demokratischen Grundkonsenses.
Neben traditionellen Engagementformen in teilweise lokal verankerten und kurzfristiger angelegten Aktivitäten hat sich auch informelles und/oder digitales Engagement herauskristallisiert.
Dennoch haben traditionelle Engagementformen nach Meinung vieler Menschen generell nichts an ihrer Bedeutung verloren.
Insbesondere zwei „Plattformen“ zeigten in den letzten zwei Jahren, dass die Definition der Enquete-Kommission und das damit verbundene Selbstverständnis von 2002 im politischen Diskurs unter mehreren Aspekten weiterentwickelt worden ist:
1. Die Tätigkeit und Empfehlungen der Kommission zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse (2018-2019) mit der Vorstellung der Ergebnisse und Empfehlungen im Bundeskabinett am 10. Juli 2019.
2. Die Umsetzung der Empfehlung zur Errichtung der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE) – zeitgleicher Kabinettsbeschluss vom 10. Juli 2019 – und die sich dann anschließende parlamentarische Diskussion bis zur Verabschiedung des Errichtungsgesetzes mit Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt am 1. April 2020.
Die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ hatte die Aufgabe, die Situation in strukturschwachen und ländlichen Gebieten zu begutachten, um die auch im Grundgesetz geforderte staatliche Aufgabe zur umfassenden Daseinsvorsorge und Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland zu erfüllen, mögliche Konfliktfelder und Defizite zu identifizieren und Vorschläge zur Beseitigung vorzulegen.
Dabei spielt vor Ort auch das gesellschaftliche Leben, das oft von freiwilligem und unentgeltlichem Engagement organisiert und getragen wird, eine sehr wichtige Rolle. Diese Aktivitäten tragen auch dazu bei, die Identifikation mit der Gesellschaft zu festigen und in der Tradition eines demokratischen und respektvollen Miteinanders dazu beizutragen, dass die Fundamente unserer pluralistischen Demokratie verteidigt und gefestigt werden.
Bei diesem Prozess auf lokaler, persönlicher Ebene kommt den „traditionellen“ Engagmentstrukturen wie z. B. Vereinen eine sehr wichtige Rolle zu. Es erscheint notwendig und sinnvoll, diese Rolle nicht nur global zu betonen, sondern die Leistungen der vielen Menschen, die in diesen Strukturen Verantwortung übernehmen, ausdrücklich zu würdigen.
Im Gegensatz zum „öffentlichen Ehrenamt“ mit sehr klar fixierten Regelungen und Wahrnehmungen, sieht die Situation im „privaten“ Ehrenamt anders aus und wird sehr stark von der eigenen Bereitschaft, freiwillig längerfristig Verantwortung zu übernehmen, und dem Selbstverständnis für die eigene Aktivität, z. B. als Vorsitzender, Vorstand oder Übungsleiter in einem Verein, bestimmt.
Auch der unentgeltlich tätige Vorsitzende eines Sportvereins, Kassierer eines Heimatvereins oder Dirigent eines Musikchores empfinden und definieren die Tätigkeit in der Organisation als ehrenamtlich, aber titulieren sie im alltäglichen Sprachgebrauch nicht als bürgerschaftlich.
Diese Selbstwahrnehmung und Einschätzung des eigenen Engagements sollte in der Diskussion um Begrifflichkeiten und Bindungswirkung nicht vergessen oder gar negiert werden.
Aber was macht dieses Engagement im traditionellen Kontext eigentlich aus?
1. Ehrenamtliches Engagement ist wie alles Handeln immer sozial eingebettet und stellt eine soziale Praxis dar, die in sozialen Organisationen institutionell gestützt und zugleich reflektiert werden muss.
2. Das ehrenamtliche Engagement ist immer gekoppelt an bestimmte Institutionen, in denen es stattfindet.
3. Das soziales Beziehungsgeflecht,
z. B. in einem Verein, spielt eine große Rolle
4. Für das ehrenamtliche Engagement ist die innere Struktur der Organisation von Bedeutung.
Werden Bürger selbst aktiv, hat dies in der Regel positive Auswirkungen auf die Gesellschaft. Da die meisten Vereine und Bürgerinitiativen demokratisch organisiert sind, erfahren die Bürger hier auch, was „gelebte Demokratie“ heißt. Vorgänge in der „großen Politik“, die ihnen sonst nur aus den Medien bekannt werden, sind hier am eigenen Leib erlebbar; insofern kann das Verständnis für Demokratie und für die Notwendigkeit, Ziele auch durch eigene Zugeständnisse und diplomatisches Handeln zu erreichen, wachsen.
Auch heute, und das findet sich in der Präambel des Errichtungsgesetzes zur DSEE wieder, weicht die Definition im Regelfall nicht von dem übergeordneten Begriff des „Bürgerschaftlichen Engagements“ ab. Es ist aber auch deutlich zu erkennen, dass sich in einigen Bereichen Bewegung im Selbstverständnis der traditionellen Organisationen und handelnden Mitglieder sowie neue Herausforderungen entwickelt haben:
1. Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der Zielgruppen: Ehrenamt ist nicht nur öffentliches Ehrenamt.
2. Damit verbundene, oft längerfristige Verpflichtung und Bindungswirkung durch Mitgliedschaft und Übernahme von Verantwortung im Verein als Herausforderung für die individuelle Lebensplanung.
3. Probleme „traditioneller“ Strukturen, Mitglieder zu gewinnen, attraktive Perspektiven und Konzepte für die Zukunft zu entwickeln, die fortschreitende Digitalisierung sinnvoll zu nutzen, ohne soziale Kompetenzen in und außerhalb der Organisation zu vernachlässigen.
4. Dadurch bedingt: Diskussion über Änderung in der eigenen Führungsstruktur sowie „Modernisierung“ der gesamten Vereinsstruktur nebst Tätigkeit in Zeiten der Digitalisierung, um auch „traditionelle“ Strukturen attraktiv für junge Menschen zu gestalten.
5. Eine starke Herausforderung zur „inneren Modernisierung“ und strategischen Weiterentwicklung, um weiterhin eine aktive Rolle im gesamtgesellschaftlichen Kontext zu spielen.
Gerade die „neuen“ digitalen Möglichkeiten und die rasante Entwicklung auch zur Gestaltung und Vernetzung im Bereich des Engagements haben die Herausforderungen für die Tragfähigkeit und Entwicklung der diversen Strukturen und Organisationsformen neu belebt und intensiviert. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass es in Deutschland aufgrund der neueren Geschichte eine unterschiedliche Landschaft von „gewachsenen traditionellen“ Engagementstrukturen gibt.
Bei allen regionalen Unterschieden und Eigenheiten finden wir in Ostdeutschland eine andere Engagementlandschaft als in Westdeutschland, da mit den Transformations- und Angleichungsprozessen im Rahmen der Deutschen Einheit ab 1990 vorhandene Strukturen oft nicht übernommen und weiterentwickelt wurden. Somit finden wir heute vor Ort oft junges Engagement. Gerade hier erscheint es sinnvoll, vorhandene Strukturen wie Sport- und Musikvereine zu nutzen, in der eigenen Entwicklung zu unterstützen und in strukturelle Überlegungen aktiv einzubeziehen.
Wie können nun traditionelle Engagementstrukturen in der DSEE gebündelt werden? Und wie kann die Stiftung diese sinnvoll einbeziehen und bei der Bewältigung aktueller Herausforderungen unterstützen?
Dazu gibt es mehrere Ansätze:
• Über den Stiftungsrat: Vertretung von Vertretern traditioneller Engagementformen
• Berücksichtigung der Anliegen bei der strategischen Ausrichtung – gerade bei der Bedeutung für strukturschwache Gebiete und ländliche Räume
• Unterstützung bei Modernisierung und Digitalisierung
Wie sehen nun die konkreten Herausforderungen für die traditionellen Strukturen in Gegenwart und Zukunft aus? Diese Fragen stellen sich diesen Vereinen und Organisationen:
1. Wie sehen die Schnittstellen zu digitalen Strukturen aus?
2. Wie kann die Motivation zum Engagement und zur Übernahme von verbindlicher Verantwortung innerhalb dieser Organisationen aufrechterhalten und der Rückgang an Bereitschaft gestoppt werden?
3. Wie können und müssen die Möglichkeiten der Digitalisierung genutzt werden – ohne soziale Kompetenzen abzubauen?
4. Wie können neue Zielgruppen angesprochen und aktiv einbezogen werden?
5. Wie können interne Strukturen und Aktivitäten so gestaltet werden, dass sie den aktuellen Erfordernissen gerecht werden.
Positionierung und grundsätzliche Überlegungen dazu:
1. Traditionelle Strukturen haben noch eine Bindungswirkung.
2. Allerdings unterliegen sie dem Wandel durch andere Engagementformen, Digitalisierung und fehlender Attraktivität für verschiedene Zielgruppen.
3. Die Einbindung zur Stärkung des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalts ist gerade in strukturschwachen und ländlichen Regionen sinnvoll und notwendig.
4. Die Chance für Weiterentwicklung der eigenen Struktur, neue Kooperationen und sinnvolle Weiterentwicklung nutzen.
5. Die Bindungswirkung kann durch interne und externe Weiterentwicklung und Öffnung gegenüber anderen Zielgruppen, „neuen“ Partnern und Möglichkeiten der Kommunikation und Information gefestigt werden. Hilfreich erscheint auch der Ausbau der Möglichkeiten der Zusammenarbeit, ohne Mitglied zu werden.
Hier wird sich entscheiden, wie zukunftsfähig und prägend traditionelle Engagementstrukturen unsere Gesellschaft in Zukunft mitgestalten können.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2020.