Strukturen der Gesellschaft

Andreas Reckwitz im Gespräch

Die Industriearbeiterinnen und -arbeiter waren ja prägend für das 20. Jahrhundert und insbesondere Adressatinnen und Adressaten sozialdemokratischer Politik. Gibt es diesen Arbeiter bzw. diese Arbeiterin nicht mehr oder finden wir heute nicht mehr die richtige Ansprache für all jene, die in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen leben?

Tatsächlich war der Industriearbeiter nicht nur eine politisch einflussreiche Größe, er erschien in der industriellen Moderne auch kulturell von Wert. Diesen Stellenwert hat er seit den 1970er Jahren verloren.

 

Aber auch die Wissensarbeiterinnen und -arbeiter sind im Kern doch Arbeitende?

In einem marxistischen Sinne würde man das so sagen. Es sind schließlich keine Personen, die über Produktionsmittel verfügen, es sind meistens abhängig Beschäftigte. Aber entscheidend ist doch die Frage, ob sie ein gemeinsames Arbeiterbewusstsein oder Kollektivbewusstsein mit Personen in den sogenannten einfachen Serviceberufen haben. Und da spricht alles dagegen. Die Hochqualifizierten ziehen ihr Selbstbewusstsein aus kognitiver Arbeit, sie vertreten häufig auch globalistische und liberale Werte. Und auf der anderen Seite, wo es relativ stark körperliche Arbeit gibt – eigentlich das Erbe der Working Class –, also in den Serviceberufen, in den einfachen Dienstleistungen, haben wir in der Regel nicht mehr das positive Klassenbewusstsein, wie man das aus der klassischen Working Class Culture kennt. Wenn man sich dort als Klasse versteht, dann negativ.

 

Fehlt es vielleicht nicht gerade auch an einer kulturellen Übersetzung dieser sogenannten einfachen Arbeiterberufe hinein in Romane, auf die Theaterbühnen oder in moderne Lieder?

Offenbar fehlt es dieser Form von Arbeit in der postindustriellen Kultur an Anziehungskraft, an positiver Identifikationskraft. Das war in der klassischen Arbeiterkultur anders. Es gab dort das Bewusstsein, dass körperliche Arbeit gewissermaßen die Gesellschaft trägt. Das Bewusstsein: „Wir sind die Basis der Gesellschaft. Wenn wir streiken, dann steht die ganze Gesellschaft still.“ Die Arbeit selber war anstrengend und repetitiv, aber sie konnte im Zuge sozialistischer und gewerkschaftlicher Bewegung doch eine gewisse Identifikationskraft ausüben, auch als Ort von Solidarität. Das reichte bis in die intellektuelle Sphäre hinein, die in dieser Arbeiterkultur etwas Positives gesehen hat, man denke etwa an die „Arbeiterliteratur“ in den 1970er Jahren in Westdeutschland. Das hat sich radikal geändert. Das Problem der Service Class heute ist häufig, dass es eine unsichtbare Arbeit ist. Wenn dann doch diese Form von Arbeit in kulturellen Diskursen oder kulturellen Repräsentationen vorkommt, dann eher als ein Objekt des Mitleids, die zu schlecht behandelt wird. Der Stolz der alten Arbeiterklasse ist jedenfalls dahin. Man sieht es z. B. in der Literatur: Die Protagonisten von den meisten Büchern der Gegenwartsliteratur bewegen sich in der neuen Mittelklasse. Es gibt zwar einen kleinen Boom von autobiografischen Texten, in denen eine Unterklassenherkunft thematisiert wird, etwa die Bücher von Didier Eribon oder Édouard Louis oder auch das jüngste Buch von Christian Baron. Aber dieses Herkunftsmilieu erscheint dort als defizitär, zumindest ambivalent – man ist froh, ihm entronnen zu sein.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2021.

Andreas Reckwitz & Peter Kuleßa
Andreas Reckwitz ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Peter Kuleßa ist Referent in der Abteilung Kommunikation des AWO Bundesverbandes und Redakteur für die Zeitschrift „Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit“ (TUP).
Vorheriger ArtikelMusiker, vereinigt euch?
Nächster Artikel„Ich sehe keine Arbeiterkultur 2.0“