Sind Arbeitnehmerrechte das Ende der darstellenden Kunst? Diesen Eindruck kann man bekommen, wenn man mit manchen Intendanten über den „Normalvertrag Bühne“ (NV Bühne) spricht, den altehrwürdigen Tarifvertrag, der die Arbeitsbedingungen des künstlerischen Bühnenpersonals regelt. Ein namhafter Bühnenjurist verstieg sich gar einmal zu der Aussage, dass die Kunstfreiheit, da sie ja ein schrankenloses Grundrecht sei, gar nicht durch „einfache“ Gesetze oder gar Tarifverträge beschränkt werden könne, diese insoweit gar keine Rechtswirksamkeit entfalten könnten.
So viel Zynismus ist sicher die Ausnahme; dennoch enthält der NV Bühne bis heute Regelungen, die in anderen Tarifverträgen undenkbar wären, so z. B. die jederzeitige faktische Möglichkeit der Theaterleitungen, Arbeitsverträge mit Jahresfrist unter Umgehung jeglichen Kündigungsschutzes aus nicht justiziablen „künstlerischen Gründen“ zu beenden, das Fehlen einer geregelten Arbeitszeit und eine Mindestgagenregelung, die Angehörige akademischer Berufe finanziell unter ungelernte Hilfskräfte stellt und – den tatsächlichen Arbeitseinsatz zugrunde legend – auch den gesetzlichen Mindestlohn unterläuft.
Eine wichtige Erklärung dafür, dass dies bis heute, trotz des engagierten Einsatzes der beiden Theatergewerkschaften Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA), übrigens mit 150 Jahren die älteste existierende deutsche Gewerkschaft, und der Vereinigung deutscher Opernchöre und Bühnentänzer (VdO) für eine Modernisierung des Tarifrechts, so funktioniert, gab einmal der Komponist Matthias Hornschuh, indem er sinngemäß sagte: „Künstler arbeiten aus Notwendigkeit – das macht sie erpressbar.“ Und hinzu kommt idealtypisch ein kräftiger Schlag Individualismus, gewürzt mit einer Prise Narzissmus – alles zusammen keine allzu gute Grundlage für einen solidarisch-kollektiven Kampf für mehr Rechte, das grundlegende Funktionsprinzip von Arbeiterbewegung und Gewerkschaften von Anbeginn.
Und geradezu folgerichtig treffen die genannten Defizite auch primär die Solistinnen und Solisten auf der Bühne – die künstlerischen Kollektive, allen voran die Orchester, aber auch die Opernchöre, beide vertreten durch eigene spezielle Gewerkschaften, haben sich in den letzten Jahrzehnten für ihre Bereiche durch Solidarität und Disziplin erheblich bessere arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen erkämpft, übrigens ohne dass die Kunst darunter gelitten hätte. Eine dieser Gewerkschaften, die Vereinigung deutscher Opernchöre und Bühnentänzer, ist 1959 genau aus diesem Grund aus der GDBA „herausgegründet“ worden und hat sich sehr schnell einen eigenen Tarifvertrag, den „Normalvertrag Chor“, erkämpft, der erst 2003 mit anderen Künstlertarifverträgen, darunter dem im Kern schon seit 1919 bestehenden „NV Solo“, zum einheitlichen NV Bühne zusammengefasst wurde.
Der NV Bühne ist eine wesentliche Stütze des weltweit einmaligen deutschen Ensemble-Theaters. Auch deshalb steht er unter nicht zuletzt wirtschaftlichem Druck, nämlich durch die Möglichkeit der Häuser, tariflich derzeit nicht geschützte – und rechtlich wie auch tatsächlich nur schwer schützbare – freischaffende Künstlerinnen und Künstler nicht nur ergänzend, sondern Ensemble-ersetzend zu engagieren. Dieser Druck erfolgt aus diversen Richtungen: seitens der Rechtsträger, denen wirtschaftliche Effizienz oft sowohl über sozialen Schutz als auch künstlerische Qualität geht, seitens der künstlerischen Leitungen, die leicht in panische Angst um ihre künstlerische Freiheit verfallen, sowie seitens theaterferner Arbeitnehmendenorganisationen, die wiederum die vorhandenen Besonderheiten künstlerischer Arbeit ignorieren. In diesem Spannungsverhältnis sind der Deutsche Bühnenverein und die Künstlergewerkschaften in einer nicht nur sozial-, sondern vor allem kulturpolitischen Partnerschaft bestrebt, das Theater zu erhalten und zu entwickeln. Dass dabei – auch angesichts einer nicht gerade euphorisch-theateraffinen gesellschaftlichen Grundstimmung – die aktuellen gewerkschaftlichen Schwerpunktthemen Arbeitszeit, Nichtverlängerungsschutz, Mindestgage und Gastvertragsrecht keine Selbstgänger sind, liegt auf der Hand.
Künstlerinnen und Künstler sind Menschen mit ganz normale Bedürfnissen, aber die Anforderungen ihrer Arbeit sind sehr speziell. Den Ausgleich zu finden ist noch ein weiter Weg.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2021.