Musikschulen und Covid-19: virtuell, virulent, virtuos, vivace

Corona drängt Musikschulen in die digitale Welt

„Und Musikschulen werden geschlossen.“ Als die Bundeskanzlerin am 16. März diesen Beschluss – in der Aufzählung der zu schließenden Einrichtungen erst nach den Bordellen, aber immerhin von ihr explizit genannt – verkündete, war mir völlig klar, dass dies nicht eine kurze Unterbrechung von Unterricht sein würde, etwa so, wie wenn ein Wasserschaden ein Musikschulgebäude unbenutzbar gemacht hätte, sondern dass es sich um nichts Geringeres als um eine Zeitenwende im Musikschulwesen handeln würde, um den Beginn einer Umwertung der Werte. Ein Kairos, der blitzartig die bisher bedächtig-systematische Auseinandersetzung mit digitalen Angebotsformen, Materialien, Methoden und Techniken in ein kreativ-chaotisches Suchen nach geeigneten Plattformen, Tools, Apps und Programmen transformieren würde. Die enormen „Nebenwirkungen“ dieser Pandemie setzen Musikschulen als immer schon lernende und reformfähige Organisation der kommunalen Bildungslandschaft nunmehr einem ebenso rasanten wie für die Zukunft grundlegenden Wandel aus: Die große Vielfalt der Akteure ringt ebenso kon-trovers wie kreativ mit der Spannweite unterschiedlicher Kompetenzen, Einstellungen, Befindlichkeiten und Temperamente in bewegter Diskussion um das richtige Ziel, das richtige Maß und den richtigen Weg in der notwendig digitalen Entwicklung von Musikschulen – oder über einen vor Ort zu findenden, vielleicht dann einrichtungsweit auszuhandelnden Kompromiss: von der spielerisch-anarchischen Graswurzelbewegung einer zunehmenden Zahl innovativer Lehrkräfte, als Early Birds oder Digital Natives, über die Ordnungs- und Strukturierungsbemühungen des Führungspersonals gegenüber Eltern und Politik, Schülerinnen und Schülern sowie Unterrichtenden bis hin zu den sich für die Rettung und Bewahrung tradierter Werte und der Alleinstellungsmerkmale des konventionellen musikpädagogischen Bildungssettings an der Musikschule verantwortlich Fühlenden, die damit aber nicht zwangsläufig in die Ecke Ewiggestriger zu stellen wären und auch nicht schablonenhaft nur in der älteren Generation zu vermuten sind.

 

In einer derartigen Krise gilt es umso mehr, zur eigenen Zukunft aufzubrechen und diese zu gestalten zu versuchen. Victor Hugos Aphorismus mag hier leiten, wenn man die Gefahr der existenziellen Bedrohung überwunden haben wird: „Die Zukunft hat viele Namen – für Schwache ist sie das Unerreichbare, für die Furchtsamen das Unbekannte, für die Mutigen die Chance.“ Die Zukunft der Musikschule ist hybrid: Unterricht von Lehrkräften mit Schülerinnen und Schülern wird als Kern von Musikschularbeit weiter bestehen und unverzichtbar bleiben – aber er wird auch grundlegend durch Implementierung von Online-Features und Nutzung digitaler Werkzeuge verändert werden. Individualisierung und Emanzipation des Lernens, Umgang mit Heterogenität und Partizipation, Augmented Reality und innovative Formen von – auch nonverbaler – Kommunikation und Verfügbarkeit von Wissen, spielerische Vermittlungs- und Aneignungsmethoden, kreative Prozesse und Produkte und letztlich eine stärker inklusive Ausrichtung des Bildungsorganismus Musikschule werden eine wesentlich stärkere Rolle spielen. Diese Aspekte und Faktoren werden nach den ungeheuren Herausforderungen, die Covid-19 aktuell und in naher Zukunft für die einzelnen Menschen, für unsere Gesellschaft und deren demokratische wie soziale Verfasstheit sowie für die zur Krisenbewältigung systemrelevanten Infrastrukturen derzeit mit sich bringt, beim „Hochfahren“ des öffentlichen Lebens an Bedeutung in Kultur- und Bildungseinrichtungen, in der Musikschule, gewinnen. Vor allem deshalb, weil Sensibilität, Achtsamkeit, Wertebewusstsein, Kreativität, Ausdrucksfähigkeit und neu wahrgenommene Selbstwirksamkeit für ein Koordinatensystem unserer mit-menschlichen Positionsfindung nach dem Corona-Armageddon in allen Konstellationen menschlicher Existenz über-lebenswichtig werden.

 

Die apokalyptischen Bedrohungen der Gegenwart gilt es jedoch zuerst abzufangen – sowohl für die einzelnen Lehrkräfte wie für die Musikschulen, an denen sie tätig sind und weiter tätig sein wollen. Hier sind die wegbrechenden Einnahmen aus Gebühren bzw. Entgelten für die einzelne Einrichtung noch nicht seriös zu beziffern – Insolvenzrisiken bestehen aber durchaus zumindest für das Drittel der VdM-Musikschulen, das in privatrechtlich organisierter Trägerschaft aufgestellt ist. Hier sind aufgrund der Gemeinnützigkeit in der Regel kaum Rücklagen gebildet; gleichwohl sind die laufenden Kosten für den Betrieb weiterhin zu finanzieren. Für diese Betriebsformen sind die erweiterten Möglichkeiten der Kurzarbeit nutzbar.
Unterrichtsausfall über einen längeren Zeitraum führt zu Einnahmeausfall, egal ob durch Gebührenerstattung oder durch Kündigung der

 

Unterrichtsverträge. Die Auffangversuche durch digitale Angebote zur Abwendung von Kündigung oder Erlöschen gegenseitiger Leistungs- und Vergütungsansprüche – sowohl im Verhältnis Musikschule und Nutzer wie im Verhältnis Honorar-Lehrkraft zur Musikschule – gelten nur dann als Unterrichts-Surrogat, wenn eine Einwilligung der Gebühren-/Entgeltpflichtigen hierzu vorliegt.

 

Am Ende der Vergütungskette stehen die freiberuflichen Lehrkräfte mit Unterrichtstätigkeit auf Honorarbasis, die personell einen zahlenmäßig hohen Anteil am Musikschulangebot bestreiten, wenn auch die Anzahl der erteilten Jahreswochenstunden durch diese Gruppe in Relation zur Gesamtstundenzahl gegenüber Angestellten etwas niedriger liegt. Hier zeigt sich die Berechtigung des Stuttgarter Appells des VdM aus 2017 mit der Forderung nach mehr Anstellungsverhältnissen in den Musikschulen. Honorarkräfte fallen als Selbständige wie als Künstlerinnen und Künstler unter den Rettungsschirm des Bundes wie unter das entsprechende Nothilfepaket des jeweilig zuständigen Landes, die – notabene – Pressemeldungen von Staatsministerin Monika Grütters zufolge vermutlich kumulativ angewendet werden können sollen, was aber zu verifizieren wäre. Honorarkräfte dürfen hierbei aber nicht durch das Raster von Ressortzuständigkeiten fallen: freiberufliche Musikpädagoginnen und -pädagogen sind nicht deshalb weniger Künstler, weil Musikschulen nicht bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien ressortieren; Honorarkräfte an Musikschulen sind nicht deshalb weniger selbständig und dem unternehmerischen Risiko ausgesetzt, weil sie ihre freie Unterrichtstätigkeit an einer kommunalen oder in kommunaler Unterhaltsverantwortung stehenden Musikschule ausüben. Musikschulen haben auch in dieser schwierigen Zeit ein Interesse daran, mit diesen oft langjährig freiberuflich „an“ einer Musikschule Tätigen weiter in Verbindung zu bleiben, für die Zeit nach Corona, mit ihrer Kenntnis der Situation vor Ort, mit ihrer Erfahrung bezüglich wirksamer Unterrichtsgestaltung. Vor allem auch, um gemeinsam mit den angestellten Lehrkräften den Schülerinnen und Schülern bei Wiederöffnung der Musikschulen sofort weiterhin eine fundierte, qualitativ gute Bildungsleistung gewährleisten zu können und dazu in der Zeit der Schließung die Bindung von Schülern/Nutzern wie von Lehrkräften an die Musikschule nicht abreißen zu lassen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2020.

Matthias Pannes
Matthias Pannes ist Bundesgeschäftsführer des Verbandes deutscher Musikschulen.
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