Mit Wasserwerfern gegen die Pandemie

Corona-Management in Chile

Als Mitte Mai für einen Großteil der Bezirke Santiagos strenge Ausgangssperren verhängt wurden, wurde die Fassade eines Hochhauses mit einem Schriftzug angestrahlt, an dem sich eine leidenschaftliche Debatte entzünden sollte. „Hambre“, Hunger, war an derselben Fassade zu lesen, auf die nur wenige Monate vorher, im Zuge des Volksaufstands Mitte Oktober 2019, das Wort „dignidad“, Würde, projiziert worden war. Nun, inmitten der Pandemie, geisterte mit einem Mal das Gespenst einer Hungersnot durch die Hauptstadt. Sollte es möglich sein, dass sich 2020 im reichsten Land Lateinamerikas neben einer Seuche auch eine Hungersnot breitmachte? Wie so oft bei vergleichbaren Fragestellungen waren die Lager auch diesmal klar verteilt: Für regierungsnahe Konservative stellte der Schriftzug wenig mehr als eine geschmacklose Provokation dar, wohingegen regierungskritische Stimmen einen Missstand beim Namen genannt sahen. Auch im reichsten Land Lateinamerikas gebe es Menschen, die nichts zu essen hätten, so die auf sechs Buchstaben komprimierte Botschaft, mit der das Künstlerkollektiv „Delight Lab“ auf die prekäre Lage unzähliger chilenischer Familien aufmerksam machen wollte, die mit den Ausgangssperren und anderen Einschränkungen um ihre ohnehin mageren Einkünfte gebracht worden waren.

 

Laut Schätzungen des statistischen Instituts INE gingen im zweiten Quartal des Jahres 25,4 Prozent der Chilenen einer Beschäftigung im informellen Sektor nach. Hinzu kommt eine Arbeitslosigkeit von zuletzt 12,2 Prozent, der höchste jemals erfasste Stand. In einem Land, in dem die Lebenshaltungskosten deutlich höher sind als in Deutschland, der Mindestlohn jedoch bei umgerechnet 350 Euro im Monat liegt, hatte es die Durchschnittsfamilie auch vor der jetzigen Krise nicht leicht, über die Runden zu kommen. Dass in Chile nun das Coronavirus wie in kaum einem anderen Land auf der Welt wütet, verschärft die Lage aufs Empfindlichste. Zuletzt lag die Infektionsrate pro 100.000 Einwohnern in Chile höher als in Brasilien oder in den USA. Die Zahl der täglichen Infektionen hält sich seit nahezu zwei Monaten ebenso konstant wie hartnäckig um die 2.000.

 

Dabei wäre man geneigt zu denken, dass die geografische Randlage Chiles einen Vorteil bei der Bekämpfung der Pandemie hätte bieten können, so wie etwa im Musterland des Corona-Managements Neuseeland. Allerdings liegen zwischen Neuseeland und Chile nicht nur die Wassermassen des Pazifik, sondern Welten. Denn während sich Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern rasch dafür entschied, ungeachtet aller wirtschaftlichen Konsequenzen möglichst viele Menschenleben zu retten, setzte man an der anderen Küste des Pazifik darauf, die Wirtschaft möglichst unbeschadet durch die Krise zu bringen. Man ließ daher zunächst das öffentliche Leben weiterlaufen, in der Hoffnung, dass sich am Ende die dunklen Prognosen doch nicht erfüllten. So verspielte man nicht nur wertvolle Zeit, sondern schlussendlich auch alle Vorteile, die die geografische Lage zwischen einem Schutzwall namens Anden und dem größten Ozean der Welt hätte bieten können. Selbst im wirtschaftlich weitaus fragiler aufgestellten Nachbarland Argentinien entschloss man sich recht früh zu schmerzhaften Maßnahmen und fuhr die Wirtschaft inmitten einer ohnehin akuten Wirtschaftskrise und vor einem drohenden Staatsbankrott herunter, um die Infektionskurve möglichst zu drücken. Zunächst mit Erfolg. In Chile sah man derweil die Zahlen weiter steigen. Anstatt aber die Schließung von Bildungseinrichtungen oder Shopping Malls zu verordnen, bestand eine der ersten großen Corona-Maßnahmen darin, den an sich schon großzügigen Kündigungsschutz noch weiter zu lockern. Was Kleinunternehmer vor dem drohenden Ruin schützen sollte, wurde aber auch von großen Konzernen genutzt, um im großen Stil zu kündigen.

 

Die zweite wichtige Maßnahme, zu der sich die Regierung genötigt sah, war, die für April anberaumte Volksbefragung zu einer neuen Verfassung, die einzige greifbare Errungenschaft der Protestwelle, die Ende 2019 das Land aufgerüttelt hatte, vorerst auf Oktober zu verschieben. Aus Sicht der konservativen Regierung Sebastián Piñeras, die die Beibehaltung der unter Pinochet entstandenen, neoliberal geprägten Verfassung befürwortet, ein willkommener Aufschub und nicht die einzige positive Begleiterscheinung der Corona-Pandemie, und es bedarf keines Zynismus, um zu dieser Feststellung zu gelangen. Denn auch ohne der Regierung das Kalkül unterstellen zu wollen, dem Virus freien Lauf gegeben zu haben, um sich eines politischen Problems zu entledigen oder zumindest Zeit zu gewinnen, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Coronavirus hierzulande, wie unlängst auch Tjerk Brühwiller in der FAZ konstatierte, den Mächtigen in die Karten spielte. So ebbten die im März, nach der Sommerpause, wiederaufflammenden Proteste recht schnell ab, als das Virus seine Ausbreitung begann. Der Notstand, der daraufhin ausgerufen wurde, bot zudem die Möglichkeit, die abendliche Sperrstunde von 22 bis 5 Uhr wieder einzuführen und Soldaten mit Maschinengewehr im Anschlag patrouillieren zu lassen. Dass sich der Nutzen solcher Maßnahmen für die Bekämpfung der Pandemie in Grenzen hält, dürfte auch denjenigen klar sein, die sie durchgesetzt haben.

Valeria Trincón
Valeria Trincón ist DAAD-Alumna und Lehrbeauftragte für Biochemie an der Universidad de Chile. Sie arbeitet für die journalistische Plattform Ciper.
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