„Kinder sagen die Wahrheit“

Earth Speakr von Ólafur Elíasson

 

Durch die globale Corona-Krise ist der Klimawandel in den Hintergrund gerückt. Glauben Sie, dass es auch durch Ihr Projekt wieder die Aufmerksamkeit bekommt, die es braucht?
Wir leben in einer sehr beschleunigten Zeit. Im vergangenen Jahr drehte sich alles um den Brexit und die Klimaproteste. Dann kam die Pandemie, nun auch noch die neue Bürgerrechtsbewegung in den USA. Es ist, also ob wir zehn Jahre in sechs Monaten durchlaufen. Aber wir sollten das nicht alles in getrennte Silos packen, Corona, die Klimafrage, Rassismus: Das ist alles eine Wirklichkeit. Auch wenn die Pandemie und die dadurch ausgelöste Krise für viele sehr traumatisch war, ist dadurch die Sensibilität gewachsen, ein Verständnis für Lokales, für das Ökosystem, Verantwortung für die Gesellschaft. Unser Alltag hat sich verändert. Plötzlich arbeiten viele zu Hause und müssen nicht mehr hin- und herfahren zwischen ihrer Wohnung und der Arbeit, und die Leute merken, dass wir gar nicht so viel fliegen müssen. Für die Fluggesellschaften und die Flugzeughersteller ist das schlecht. Aber so ist es jetzt.

 

Ihr Kunstprojekt ist ja geradezu sinnbildlich für diesen Wandel: Wir bleiben in Europa und global verbunden, aber jedes Kind macht sein Kunstwerk in seinem Dorf, seiner Stadt, bei sich.
Ja, das kann sehr spannend werden. Es geht nicht darum, die Globalisierung zurückzudrehen, sondern unsere Welt anders zu gestalten und zu vernetzen. Da haben die Kinder eine Vorreiterrolle.

 

Muss Kunst heute generell politischer werden?
Auch wenn ein Künstler in seinem Atelier ein Bild malt, macht er das ja nicht nur für sich. Das ist eher eine Frage der Formsprache, ob man malt, eine Skulptur oder eine Videoinstallation schafft, ob man ein Buch schreibt oder dichtet. Was sagt der Künstler damit? Darauf kommt es an. Kunst hat eigentlich immer, es sei denn, sie ist rein kommerziell, mit der Wirklichkeit zu tun. Deshalb sollten wir von den internen Kämpfen in der Kulturszene zurücktreten, wer die beste Formsprache hat. Darüber wird viel zu viel gestritten, male ich oder tanze ich oder mache ich Filme. Dadurch wird der Zusammenhalt unter den Künstlern geschwächt. Kultur ist der Herzschrittmacher der Gesellschaft. Angesichts des Populismus, der um sich greift, müssen wir eine postideologische Vertrauensbasis schaffen. Wir müssen gemeinsam die Welt gestalten und eine Utopie entwickeln. Deshalb bin ich für Multilateralismus und engagiere mich für die EU.

 

Sie sind selbst sehr multilateral. Sie sind Isländer und Däne, arbeiten und leben in Berlin.
Ich habe seit einigen Jahren auch einen deutschen Pass. Ich bin ein Europäer.

 

Ihr Projekt ist virtuell und digital. Ist das auch eine Antwort auf die Frage nach dem ökologischen Fußabdruck von Kunst und Kultur, wenn z. B. Kunstwerke, Orchester oder Bands durch die ganze Welt reisen und fliegen?
Das Avantgardistische an der Kultur ist, dass sie auch immer eine ethische Aussage macht. Sie hat immer ein Selbstbild von den Werten, die sie vertritt. Die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist in der Kunst allerdings oft viel höher als in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Denn die Wirtschaft z. B. beansprucht gar nicht, dass sie für moralische Werte steht. Die Kultur beschäftigt sich sehr damit. Deshalb muss sie sich auch mit ihrem CO2-Abdruck befassen. Ein digitales Projekt wie unseres kann darauf eine Teilantwort sein. Aber viel wichtiger ist, dass wir das, was wir fordern, auch selber tun, also umwelt-, klima- und zukunftsgerecht leben.

 

Kunst hat immer auch einen Wert für sich, sie ist normalerweise nicht in erster Linie Ausdruck eines bestimmten Ziels oder Zwecks. Wie ist das bei „Earth Speakr“?
Kunst hat, wenn sie nicht funktionalisiert wird, eine klarere Aussage. Aber dieser Satz darf nicht zum Dogma werden. Das widerspräche dem künstlerischen Potenzial, der Dynamik der Kultur für die Gesellschaft. Wenn man zurückschaut, hat sich Kunst immer mit der Realität auseinandergesetzt. Avantgarde zu sein heißt nicht, dass sich Kunst für eine bestimmte Ideologie instrumentalisieren lassen sollte. Aber in den Meinungsstreit in einer Gesellschaft, zwischen den verschiedenen Interessengruppen, kann und muss sie sich einmischen.

 

Wenn die Kinder einfach nur eine schöne Landschaft zeigen, eine Pflanze, einen See, einen Wald oder auch Umweltverschmutzung, würde Ihnen das als Aussage reichen?
Das ist die Realität, wie sie sie sehen, und deshalb hat es eine Bedeutung. Ich war in einer Schulklasse und habe mit den Schülern über das Leben einer Pflanze gesprochen und woran etwas Künstlerisches an ihr zu spüren ist. Die meisten sagten, wenn eine Blume blüht, dann ist es ein Kunstwerk. Aber einige sagten, es ist die Wurzel, andere die Erde, in der sie wächst, oder das Wasser. Es kommt immer auf die Sichtweise an. Wir müssen uns da nicht festlegen. Ich habe großes Vertrauen in Künstler, gerade in die Kinder, viel mehr als in andere Menschen.

 

Aber was hat das mit der Gesellschaft zu tun?
Nehmen Sie Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist gesellschaftliche Liebe, Humanität. Kultur sollte die Verbindung schaffen von Liebe und Gerechtigkeit. Gerhard Richter hat gesagt: Kunst ist die höchste Form der Hoffnung. Sie sollte zwischenmenschliche Beziehungen und gesellschaftliche Gerechtigkeit überbrücken. Kunst hat da etwas anzubieten, wenn wir Künstler es richtig angehen.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2020.

Ólafur Elíasson und Ludwig Greven
Ólafur Elíasson arbeitet mit Skulpturen, Gemälden, Fotografie, Film, Installationen und digitalen Medien. Ludwig Greven ist freier Publizist.
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