Qualität, Anpassungsfähigkeit und Internationalität

Die Frankfurter Buchmesse

Zum 70. Mal findet die Frankfurter Buchmesse in diesem Jahr statt – und es ist bei Weitem nicht das einzige Jubiläum, das die Buchbranche 2018 feiern kann: Vor 110 Jahren gründete Ernst Rowohlt seinen Verlag in Leipzig, vor 175 Jahren startete Macmillan Publishing seine Verlagsgeschichte, die Münchner Buchhandlung Hugendubel versorgt ihre Kunden seit 125 Jahren mit Lesestoff. Und, à propos Lesestoff: 2018 jährt sich zum 200. Mal das Erscheinen von Mary Shelleys Roman „Frankenstein“. In der jüngeren Geschichte versetzte ein bebrillter Zauberlehrling die Verlagswelt in Aufregung: Vor 20 Jahren sorgte die deutsche Ausgabe von „Harry Potter und der Stein der Weisen“ für viele schlaflose Nächte. Wenn Sie jetzt vermuten, dass diese traditionsreichen Unternehmen vom Aussterben bedroht seien, so halte ich dagegen: An diesen Jahrestagen lässt sich ablesen, wofür unsere Branche steht – für Qualität und Anpassungsfähigkeit.

 

Wir möchten in diesem Jahr aber nicht so sehr unseren eigenen „Geburtstag“ in den Vordergrund rücken, sondern ein, wie ich finde, viel relevanteres Jubiläum: Vor ebenfalls 70 Jahren, am 10. Dezember 1948, wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. Anlass für uns, mit der Kampagne „On The Same Page“ die Bedeutung der Menschenrechte stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken – und vor allem die damit verbundene Aufgabe, uns für ihren Schutz und ihre Einhaltung zu engagieren. Denn das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit sowie das Recht auf Bildung sind Teil unserer DNA. Ohne sie würde es die Frankfurter Buchmesse nicht geben.

 

An der ersten Frankfurter Buchmesse nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen 205 Verlage aus Deutschland teil. Die Messe wurde am 17. September 1949 in der notdürftig wieder errichteten Paulskirche durch Carl Hanser eröffnet, den Verleger und damaligen Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Der historische Schauplatz der ersten Nachkriegsbuchmesse prägte den Charakter dieser Veranstaltung in den Anfangsjahren. Als mein Vorgänger Alfred Grade 25 Jahre nach der Eröffnung der ersten Frankfurter Buchmesse zu seinem Erfolgsrezept befragt wurde, gab er zu Protokoll, „dass die technischen Einschränkungen, zu denen uns die Räumlichkeiten der Paulskirche zwangen, den demokratischen Geist unseres Tuns förderten, und dieser demokratische Geist ist die Ursache für den Erfolg der Frankfurter Buchmesse gewesen“. Natürlich trugen auch der Wohlstand der Wirtschaftswunderjahre und der Hunger nach Bildung und Unterhaltung maßgeblich zum rasanten Wachstum der Messe nach dem Krieg bei. Dem demokratischen Geist bleibt die Frankfurter Buchmesse indes auch heute noch verpflichtet.

 

Ein Unternehmen wie die Frankfurter Buchmesse könnte nicht existieren ohne demokratische und pluralistische Grundprinzipien, wie sie in der Vielzahl der hier ausgestellten Medien zum Ausdruck kommen. Und so ist es ein zentrales Anliegen der Frankfurter Buchmesse, Bibliodiversität zu fördern. Wenn wir davon ausgehen, dass jede Autorin und jeder Autor sich auf das Werk eines anderen Autors bezieht, und dass jedes Werk im weitesten Sinne als eine Antwort oder ein Kommentar zu einem oder mehreren bereits publizierten Werken zu lesen ist, dann bedarf das dadurch initiierte „Große Gespräch“ der Vielfalt der Gesprächsteilnehmer und Kommentatoren, kurz: Es bedarf einer umfassenden Vielfalt der publizierten Literaturen auf der ganzen Welt. Auch dafür steht die Frankfurter Buchmesse als internationalste Veranstaltung ihrer Art von Anfang an: Bereits auf der zweiten Frankfurter Buchmesse 1950 gesellten sich 100 ausländische Verlage zu den 360 deutschen. Inzwischen sind es 4.717 ausländische Verlage aus über 100 Ländern. 1966 führte die Frankfurter Buchmesse ein Programm ein, das abwechselnd Verlage aus je drei afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Ländern als Gäste einlud: Die Kosten für den Messestand, für Reise und Aufenthalt wurden anteilig von der Messe und dem Auswärtigen Amt übernommen. Das Einladungsprogramm gibt es noch immer, doch inzwischen laden wir rund 30 kleine, unabhängige Verlage aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Südosteuropa nach Frankfurt ein. Auf diese Weise zeigen wir das Buch- und Medienangebot ganz unterschiedlicher Märkte in Frankfurt und achten darauf, dass auch kleine Sprachräume hier vertreten sind.

 

Auf der ersten Frankfurter Buchmesse sorgten Uniformität und Größenbeschränkung der Stände für einen einheitlichen Charakter der Ausstellung. Diese Regelung, die jedem Aussteller unabhängig von seiner finanziellen Kraft die gleichen Darstellungsmöglichkeiten einräumte, begründete eine Messepolitik, die Verlage zwang, sich auf ihre Inhalte zu konzentrieren. Auch dies führte, wie der langjährige Messedirektor Peter Weidhaas in seinem Buch „Zur Geschichte der Frankfurter Buchmesse“ bemerkte, zu einem demokratisierenden Effekt: „Die kleinen Verlage, die sich oftmals der Publikation junger, avantgardistischer Autoren widmeten, fühlten sich neben den großen Häusern wahrgenommen (…).“

 

Dass in Frankfurt multinationale Verlagskonglomerate ebenso vertreten sind wie ein Independent-Verlag aus Äthiopien, Literaturagenten aus Malaysia oder innovative Medien-Start-ups aus Deutschland macht das Wesen der Messe aus. Das wechselnde Gastland, in diesem Jahr Georgien, gibt jeder Messe eine charakteristische Prägung. Im Zentrum stehen auch heute noch die Inhalte und die Autoren, wobei wir auf Uniformität heute weniger Wert legen, im Gegenteil: Mittlerweile machen originelle oder raumgreifende Standbauten den Rundgang über die Frankfurter Buchmesse zu einem Erlebnis. Besonders vorgehoben sei an dieser Stelle ein kleiner, unabhängiger Schweizer Verlag, der für seine ausgefallene Standgestaltung geradezu einen „Pour la Mérite“ verdiente. Ob Jurte oder Containerturm: Peter Haag, der Verleger des Züricher Kein & Aber Verlages, führt uns Jahr für Jahr vor Augen, wie fantastisch ein Messestand im 21. Jahrhundert aussehen kann. Und unsere Kollegen im Messemanagement tun alles, um die Sicherheit dieser Bauten zu gewährleisten.

 

Auf der Frankfurter Buchmesse 1957 kaufte der S. Fischer Verlag die deutschen Übersetzungsrechte von „Dr. Schiwago“. Das auf abenteuerliche Weise aus Russland herausgeschmuggelte Manuskript war dem Mailänder Verleger Giangiacomo Feltrinelli ausgehändigt worden, der die Weltrechte vertrat. „Es war das erste Mal, daß eine Stimme von dort durch den Eisernen Vorhang, durch die hermetisch abgeschlossene Mauer hindurch nach Westen drang“, notiert die Verlegerin Brigitte B. Fischer in ihrer Autobiografie „Sie schrieben mir“. Das Buch des späteren Nobelpreisträgers Boris Pasternak gelangte über die Frankfurter Buchmesse in die Welt, während es in Russland erst 1988 – und damit fast 30 Jahre nach dem Tod des Autors – veröffentlicht werden durfte. Es sind Geschichten wie diese, die die Bedeutung der Frankfurter Buchmesse als wichtigsten Handelsplatz für Rechte und Lizenzen befestigten. Und wenn man sich das „Literary Agents & Scouts Centre“ heute ansieht, in dem knapp 800 Literaturagenten aus der ganzen Welt Auktionen durchführen und mit Film-, Übersetzungs- und Audiorechten handeln, dann wird deutlich, dass es dieser Handelsplattformen gerade im digitalen 21. Jahrhundert mehr denn je bedarf.

Sie sei das Oktoberfest der Buchbranche, notierte ein scharfzüngiger Journalist vor einigen Jahren über die Frankfurter Buchmesse, und einer der einflussreichsten Literaturagenten der Welt, Andrew Wylie, bekannte in einem Interview, die Frankfurter Buchmesse entspräche seiner Vorstellung vom Himmel. Keine Frage – ein Jahrmarkt der Eitelkeiten ist eine Messe immer auch: In Frankfurt trifft sich die Branche, um Geschäfte zu machen, um Probleme zu lösen, die Konkurrenz zu beobachten und Erfolge zu feiern. Mehr denn je rückt die Begegnung mit Autorinnen und Autoren in den Vordergrund, und der in diesem Jahr zum ersten Mal realisierte „Frankfurt Pavilion“, eine aufsehenerregende, temporäre Holzkonstruktion, die das Frankfurter Architekturbüro schneider+schumacher in unserem Auftrag konzipiert hat, wird die zentrale Bühne für das von uns kuratierte literarische Programm sein. Die Aktivitäten der Frankfurter Buchmesse reichen sich indes längst weit über die fünf Tage im Oktober hinaus.

 

Denn in dem gleichen Maße, wie wir darauf achten, dass die Frankfurter Buchmesse der internationalste Handelsplatz der Welt ist und bleibt, ist es uns ein Anliegen, die deutsche Buchproduktion in möglichst vielen unterschiedlichen Regionen der Welt bekannt zu machen. Mit Förderung des Auswärtigen Amtes und in enger Zusammenarbeit mit den Goethe-Instituten vor Ort richtet die Frankfurter Buchmesse Jahr für Jahr deutsche Gemeinschaftsstände auf rund 20 Auslandsmessen aus, von Kairo bis Istanbul, von London bis Moskau, von Teheran über Taipeh bis Guadalajara. Die Vielfalt der Titel und Themen, die wir hier präsentieren, ist Ausdruck unserer lebendigen Verlagslandschaft. Und gerade in Ländern, in denen die demokratischen Grundwerte bedroht sind, beziehen wir mit Themenkollektionen und Veranstaltungen Stellung: Denn Bücher, davon bin ich überzeugt, sind, in welcher Darbietungsform auch immer, das Leitmedium zur Verbreitung des freien Wortes.

 

Dabei darf nicht vergessen werden, dass Bücher vor allem sichtbar, – und das heißt heutzutage auffindbar – sein müssen, um ihre volle Wirkkraft entfalten zu können. Zentrale Voraussetzung dafür, gerade in Zeiten der Digitalisierung, ist eine moderne und leistungsstarke Technologie-Infrastruktur, die es ermöglicht, dass jedes Buch seine Leser findet. Dazu dient nicht zuletzt unser Engagement mit unserem Schwesterunternehmen MVB in Brasilien. Auf Basis des deutschen Verzeichnisses Lieferbarer Bücher (VLB) haben wir dort gemeinsam mit der brasilianischen Buchkammer Câmara Brasileira do Livro (CBL) erfolgreich eine Metadatenbank unter der Marke „Metabooks“ etabliert, die dem lokalen Buchmarkt erstmals eine übergreifende Plattform zur Vermarktung von Büchern nach einheitlichen, internationalen Standards zur Verfügung stellt.

 

Als Wirtschaftstochter des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels verursacht die Buchmesse Kosten und liefert Einnahmen, und letztlich muss die Bilanz stimmen. Der wirtschaftliche Erfolg sichert die zahlreichen Aktivitäten der Frankfurter Buchmesse ab, die nicht profitorientiert sind, sondern dem Charakter des Buches als Kulturgut Rechnung tragen.

 

So fördern wir mit Litprom e.V. einen Verein, der sich für die Verbreitung von Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika einsetzt. Mit seinem Liberaturpreis vergibt Litprom seit 30 Jahren einen Preis, der ausschließlich Literatur von Frauen aus diesen Weltregionen auszeichnet. Ebenso unterstützen wir LitCam e.V., eine gemeinnützige Gesellschaft, die sich für Bildungsgerechtigkeit und Integration engagiert. Mit ihren Initiativen will LitCam die Bildungschancen für alle verbessern, unabhängig von ihren materiellen oder sozialen Voraussetzungen.

 

1997 trat die Stadt Frankfurt am Main auf Vorschlag des damaligen Dezernenten für multikulturelle Angelegenheiten, Daniel Cohn-Bendit, dem „Internationalen Netzwerk der Städte der Zuflucht (ICORN)“ bei. Ein Jahr später, aus Anlass der 50. Frankfurter Buchmesse, beschloss der Aufsichtsrat der Buchmesse 1998, das Programm mitzutragen und so das Engagement der Buchmesse für die Freiheit des Wortes zu verdeutlichen.

 

So wichtig wie das gesellschaftliche Engagement ist aber das wirtschaftliche Umfeld, in dem wir agieren: In den Medien wurde hinlänglich über die Entwicklungen berichtet, die den deutschen Buchmarkt aktuell beschäftigen – das Abwandern von Millionen von Leserinnen und Lesern, die immer mehr ihrer freien Zeit in sozialen Netzwerken und mit Serien verbringen, die abnehmende Kundenfrequenz in den Innenstädten. Umso mehr erfüllt mich der Unternehmergeist einer neuen Generation von Verlagsgründern und Buchhändlerinnen mit Respekt: Ihre Innovationsfreude, Risikobereitschaft und Leidenschaft – aber auch ihre Entscheidung für ein klares Profil und eine sorgfältige Titelauswahl – sind Gradmesser für die Zukunft unserer Branche. Ich wünsche mir und ihnen, dass wir die nächsten 70 Jahre in enger Partnerschaft zusammenarbeiten.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2018.

Juergen Boos
Juergen Boos ist Direktor der Frankfurter Buchmesse.
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