In Zeiten der Distanz sozial, solidarisch und systemrelevant bleiben

Ein Lagebericht zum Theater während der Pandemie

Die ungeheure Dynamik der Entwicklung der letzten Tage ist beispiellos: Vor zwei Wochen habe ich dem russisch-deutschen Ensemble zur Premiere von „Decamerone“ – was man als Ironie des Schicksals interpretieren könnte – noch über die Schulter gespuckt, drei Tage danach wurde das Deutsche Theater fürs Publikum geschlossen und eine weitere Woche später alle Mitarbeiter ins Homeoffice geschickt. Morgen verliert an Gültigkeit, was heute maßgeblich war und gestern noch undenkbar erschien. Es geht, wie Angela Merkel es formuliert, darum, „in der Lage zu lernen“. Deshalb können heute kaum valide Einschätzungen darüber erfolgen, welche Auswirkungen die Corona-Pandemie auf die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft haben wird. Was man jedoch schon jetzt angesichts der auf unbekannte Zeit geschlossenen Häuser sagen kann, ist, dass der Effekt gewaltig sein wird – und zwar auf unterschiedlichen Ebenen: psychologisch, ökonomisch und gesellschaftspolitisch.

 

Keine andere Kulturform ist wie das Theater betroffen, da hier soziale und physische Nähe systemimmanent sind: Theater als Kunstform entsteht und existiert in der unmittelbaren zwischenmenschlichen Interaktion, in leiblicher Kopräsenz. „Soziale Distanz“ wird folglich zum Todesurteil. Das bedeutet, dass wir zurzeit unsere zentrale Aufgabe, ein soziales und ästhetisches Zentrum der Städte zu sein, nicht mehr wie gewohnt ausüben können. Wir arbeiten entgegen unseren Energien gerade am eigenen Verschwinden bzw. „under cover“ weiter – vorübergehend natürlich. Das ist schwer auszuhalten, weil wir alle große Lust haben und unsere Häuser darauf ausgelegt sind, mit dem Publikum als Kollektiv in einen direkten Dialog zu treten. Diese Kunstproduktion und -präsentation muss nun kalkuliert runtergefahren werden. Das muss sehr gut kommuniziert und abgestimmt werden mit Wissenschaft und Politik, mit den anderen Häusern und Kollegen und natürlich mit den eigenen Mitarbeitern und Gästen.

 

Andererseits ist es wichtig, in der gesellschaftlichen Wahrnehmung präsent und handlungsfähig zu bleiben, alternative Formate zu entwickeln und die Planungen für die Zeit nach der Krise voranzutreiben. Zunächst muss die Kommunikation intern und extern in den digitalen Raum verlegt werden. Alle Theater denken über Möglichkeiten nach, Inhalte digital zur Verfügung zu stellen, ob live gestreamt oder über Aufzeichnungen. Viele praktizieren dies schon, es gibt auch meist spontan entstandene Formate in den sozialen Medien. Das sind natürlich keine Einnahmequellen, sondern vor allem experimentelle Lebenszeichen, um mit unserem Publikum in Kontakt zu bleiben. Wir sind jetzt aufgefordert, auch angesichts der brachliegenden kreativen Ressourcen, über andere, virtuelle Bühnen und Kommunikationsformen nachzudenken. Wie können beispielsweise Festivals und internationaler Austausch im Netz stattfinden?

 

Wir lernen als Gesellschaft gerade, wie man über Distanz zusammenhalten kann – sozial, kreativ und solidarisch zu sein. Doch nicht nur im jetzigen Ausnahmezustand müssen die Theater ihre Souveränität behalten, sondern auch die Zeit nach der Krise müssen wir mitdefinieren können. Um diese Handlungsfähigkeit zu bewahren, müssen Strukturen und Arbeitsplätze während der Schließung erhalten bleiben. Finanziell kann man die Folgen berechnen, öffentlich getragene Theater müssen 11 bis 22 Prozent ihres Etats selbst aufbringen, und diese Summe fällt jetzt weg. Bei den Privattheatern und den Freien Gruppen ist der Anteil dramatisch höher.

 

Je länger die Schließung dauert, desto gravierender sind die finanziellen Einbußen, die Letztgenannten trifft es ohne öffentliche Förderungen und größere Rücklagen ganz unmittelbar und existenziell. Natürlich ist jedes Theater aufgefordert, Einbußen zu minimieren, aber ich halte es für wichtig, dass die öffentlich finanzierten Theater sowohl an ihre festen wie auch ihre freien Mitarbeiter die Zusage geben, zu ihren Verabredungen zu stehen, und auch dort, wo juristische Lücken sind, kulant zu sein. Kulanz hat politische Signalwirkung.

 

Zugleich ist es wichtig, dass die Politik mit Nothilfen, Ausfallhonoraren und Fonds dem Theater unterstützend zur Seite steht. Politisch stimmen die Signale optimistisch: Staatsministerin Monika Grütters hat sich entsprechend geäußert, auch die Minister auf Bundes- und Länderebene beziehen in ihren derzeitigen Statements Kulturschaffende mit ein. Das zeigt: Die Kultur ist im Bewusstsein. Entscheidend ist jedoch, dass die Kulturpolitik jetzt, wo Rettungspakete in Milliardenhöhe verabschiedet werden, um die Wirtschaft und das Gesundheitssystem zu stabilisieren, mit entsprechenden finanziellen Zuschüssen deutlich macht, dass Kunst kein verzichtbares Luxusprodukt ist. Theater ist für eine Kulturnation systemrelevant.

 

Gerade in der Krise ist das Theater unverzichtbar. Wie keine andere Kunstform ist es trainiert, produktiv Routinen zu unterbrechen und einen Diskurs- und Möglichkeitsraum zu eröffnen, um Gesellschaft ästhetisch zu reflektieren und neu zu entwerfen. Im Augenblick sind die Theater zwar selbst beim Proben, Produzieren und Präsentieren unterbrochen, was für alle Beteiligten eine herausfordernde Lernerfahrung ist. Doch Kulturschaffen zeigt sich nicht nur in Produktionen. Theatermacher denken, lesen, diskutieren, schreiben, planen, konzipieren und erfinden weiter, spielen Utopien und Dystopien durch und setzen sich dabei mit dem, was gerade geschieht und alle überfordert, auseinander. Kunst kann einerseits produktive Distanz und andererseits Empathie herstellen. Beides werden wir dringend brauchen, wenn wir uns mit den gesellschaftlichen Konsequenzen auseinandersetzen. So wie gerade im globalen Kampf gegen den gemeinsamen Feind sehr unterschiedliche politische Kulturen sichtbar werden, so bietet diese Pandemie den Feinden einer offenen Gesellschaft, den Kritikern der Globalisierung, der europäischen Idee, den Gegnern von Freiheitsrechten, offenen Grenzen und Liberalismus neuen Stoff. Das kann gefährlich werden für die Demokratie. Hier braucht es starke Gegenstimmen und künstlerische Visionen. Jetzt ist die Stunde der Exekutive, aber nach der Krise wird das Theater unverzichtbar für die Gesellschaft sein. Deshalb muss die Politik es jetzt unterstützen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2020.

Ulrich Khuon und Birgit Lengers
Ulrich Khuon ist Präsident des Deutschen Bühnenvereins und Intendant des Deutschen Theaters Berlin. Birgit Lengers ist Leiterin des Jungen DT und von DT International.
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