Das Licht der dunklen Vorgeschichte

Die Himmelsscheibe von Nebra

Nur selten wird die schriftlose, angeblich so „dunkle“ Vorgeschichte durch einen einzelnen Fund so schlaglichtartig erhellt wie durch die Himmelsscheibe von Nebra. Im Juli 1999 wurde sie mit ihren Beifunden von zwei Raubgräbern entdeckt. Im Jahr 2002 wurden die Funde von der Schweizer Polizei zusammen mit deutschen Behörden in Basel sichergestellt und dem Land Sachsen-Anhalt als rechtmäßigem Eigentümer übergeben. Es handelt sich um eine Bronzescheibe von rund 31 cm Durchmesser, auf der unter anderem Sonne oder Vollmond, Sichelmond und Sterne aus Goldblech angebracht sind.

 

Nach zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen ist nun klar, dass die Himmelsscheibe vom Mittelberg stammt, nahe der Stadt Nebra. Dort lag sie zusammen mit zwei Schwertern, zwei Beilen und einem Meißel sowie zwei Armringen vergraben. Die Beifunde datieren die Niederlegung dieses Hortes an das Ende der Frühbronzezeit um 1600 v. Chr. Zu diesem Zeitpunkt war die Himmelsscheibe selbst bereits etwa 100 bis 200 Jahre in Gebrauch. Sie gilt damit als älteste bekannte konkrete Himmelsdarstellung der Welt und ist seit 2013 UNESCO-Weltdokumentenerbe. Das Bildprogramm der Himmelscheibe ist das Ergebnis mehrerer Veränderungen. Den herstellungstechnischen und materialanalytischen Untersuchungen zufolge, lassen sich vier bis fünf Phasen unterscheiden.

 

Die erste Phase der Scheibe zeigt auf vermutlich dunklem, den Nachthimmel darstellendem Hintergrund in ungewöhnlich nüchterner Form Sonne bzw. Vollmond, Sichelmond und 25 gleichmäßig angeordnete Sterne. Eine auffällige Konzentration von sieben weiteren Sternen zwischen Vollmond/Sonne und Sichelmond verkörpert die Plejaden. Diese altbekannten Kalendersterne sind auf zahlreichen Darstellungen des antiken Vorderen Orients abgebildet und dienten als Hilfsmittel zur Einteilung des bäuerlichen Jahres. Darüber hinaus verbirgt sich hinter der auffälligen Anordnung der Bildelemente auf der Himmelscheibe eine Schaltregel zur Korrelation des kürzeren Mondjahres mit dem längeren Sonnenjahr. Es handelt sich also um einen Lunisolarkalender. Für die Anwendung der Schaltregel sind die Stellung der Plejaden zum Sichelmond und die Dicke der Sichel ausschlag-gebend. Die Kenntnis dieser Regel ist wahrscheinlich aus dem Vorderen Orient nach Mitteleuropa gelangt. Da die Informationen mehrfach verschlüsselt dargestellt sind, war das Wissen wohl ein Machtinstrument weniger Eingeweihter. Der Auftraggeber der Himmelsscheibe gehörte sicherlich zur Führungsschicht der stark hierarchischen mitteldeutschen Aunjetitzer Kultur (2200 bis 1600 v. Chr.) und war in ein weiträumiges Kommunikationsnetzwerk eingebunden, wie nicht zuletzt die Herkunft des Rohmaterials aus dem Ostalpenraum – Kupfer – und Cornwall – Gold und Zinn – belegt. Bestattungen solcher Persönlichkeiten sind von den Fürstengräbern von Leubingen, Helmsdorf und den jüngst ausgegrabenen Resten des riesigen Fürstengrabhügels Bornhöck bekannt.

 

In der zweiten Nutzungsphase fügte man zwei sich gegenüberliegende Horizontbögen aus Goldblech an den Rändern der Himmelsscheibe hinzu, die den Horizontverlauf der Sonne von der Sommersonnenwende am 21. Juni bis zur Wintersonnenwende am 21. Dezember symbolisieren. Dieses Wissen existierte offenkundig bereits im 5. Jahrtausend v. Chr. Vermutlich wurde die Himmelsscheibe dem Sternenhimmel gleich über dem Kopf gehalten, wie auch heutige Sternenkarten, jedoch ohne konkrete Sternbilder zu zeigen. So stellten sich die Menschen der damaligen Zeit den Himmel offenbar – ähnlich wie im Weltbild des Thales von Milet – als kuppelförmiges Gebilde vor. Die Himmelsscheibe von Nebra verkörpert also auch die früheste Abstraktion dieses dreidimensionalen Gedankens in eine zweidimensionale Form.

 

In der dritten Phase wurde die Himmelsscheibe durch Anbringung eines weiteren kleineren Goldblechbogens am unteren Scheibenrand um eine mythologische Komponente erweitert. Dies ersetzte vermutlich ihren ursprünglich nüchternen technischen Charakter. Vergleichbare Darstellungen im Ostmittelmeerraum und Ägypten machen eine Interpretation als Schiff am wahrscheinlichsten. Ab 1600 v. Chr. treten zahlreiche Schiffsdarstellungen im nördlichen Mitteleuropa und Skandinavien auf. Sie werden mit einem Wandel kosmologisch-religiöser Vorstellungen in Verbindung gebracht. Das Schiff verkörpert wohl die „Sonnenreise“ durch Tag und Nacht auf dem Himmelsozean – eine zentrale religiöse Vorstellung des 2. Jahrtausends v. Chr. Ihr Ursprung liegt abermals im Vorderen Orient, wo das Schiff ab dem 3. Jahrtausend v. Chr. ein wichtiger Bestandteil der Glaubensvorstellungen ist.

 

In der vierten Phase wurde die Himmelsscheibe am Rand umlaufend mit Löchern versehen, um sie auf einer Unterlage zu befestigen und vielleicht öffentlich präsentieren zu können. Ihre Durchlochung geschah in grober Weise ohne Rücksicht auf die Goldapplikationen oder ihren Symbolwert, sodass ein Bedeutungsverlust dieser Elemente oder gar deren Ablehnung in dieser Phase wahrscheinlich ist.

 

In der fünften und letzten Phase wurde die Scheibe durch Beschädigung oder das bewusste Entfernen eines Horizontbogens endgültig rituell unbrauchbar gemacht und anschließend zusammen mit den anderen Gegenständen vergraben.

 

Die Umarbeitungen der Himmelsscheibe zeigen, dass das komplexe astronomische Wissen der ersten Phase wahrscheinlich spätestens in der dritten Phase verloren gegangen war und mythologische Bildinhalte die nüchterne Darstellung astronomischer Gesetzmäßigkeiten ersetzten. Es fand sozusagen eine Transformation „vom Logos zum Mythos“ statt. Besonders in der ersten und dritten Phase lassen sich überregionale Kontakte der Fürsten der Aunjetitzer Kultur wohl bis in den östlichen Mittelmeerraum erkennen.

 

Mit der Himmelsscheibe von Nebra bietet sich die Chance, vorgeschichtliches Kalenderwissen und Weltbilder zu fassen und damit Licht ins Dunkel der Vergangenheit zu bringen. Bei der Erforschung ihres Hintergrundes wird auch die Frühbronzezeit in den Blick gerückt, in der die Fundamente der modernen Welt gelegt wurden.

 

Alle neuen Forschungsergebnisse werden vom 20. November 2020 bis zum 16. Mai 2021 in Kooperation mit dem British Museum in der internationalen Sonderausstellung „Die Welt der Himmelsscheibe von Nebra – Neue Horizonte“ im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle präsentiert.

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