Eine neue Autorenschaft

Die Fotografie ist ohne Fotobücher nicht denkbar

Als am 12. November 2018 die legendäre Fotobuchsammlung von Manfred Heiting im kalifornischen Malibu durch einen Waldbrand vernichtet wurde, beklagte die Fachwelt einen unermesslichen Verlust. 136.000 Erstausgaben und Editionen wurden in Minutenschnelle Opfer der Flammen. Doch ging mit der physischen Zerstörung der Buchbestände unwiderruflich auch fachliches Wissen verloren. In einem „Nachruf auf ein Stück Kulturgeschichte“ kam ein namhafter Fotokurator zu Wort. „Heiting hatte nicht nur eine Erstausgabe von Robert Franks Buch ›The Americans‹. Er hatte jede Ausgabe, in allen Sprachen, in hervorragender Qualität – so konnte man die Unterschiede sehen.“ 

 

Was daherkommt wie die Expertise eines Bibliothekars, führt in Wirklichkeit zum Wesenskern des Fotobuchs. Zumal die Rückbesinnung auf die konkrete Physis von Buchwerken im Umkehrschluss bedeutet, dass Fotobücher weitaus mehr bezeichnen als eine Hülle für fotografische Bilder. Tatsächlich verdichten sich Bildbände erst im kreativen Spannungsfeld von Korpus und Konzept, Gestaltung und Aufnahme, Einzelbild und Serie zu einem unverwechselbaren Amalgam, dem eine Autonomie zugesprochen werden kann. Robert Franks Jahrhundertbuch „The Americans“ von 1959, von dem bis heute weltweit über eine Million Buchexemplare gedruckt wurden, mag für einen solchen Qualitätsbegriff Pate stehen. Schließlich wählte der Fotograf in Eigenregie aus einem Bestand von über 27.000 Schnappschüssen seiner Amerikareise nur 83 ikonische Motive aus. Der Band markiert nicht weniger als eine neue Autorenschaft in der Fotografie. Er sollte gleich mehrere Generationen von Bildermachern entscheidend prägen. 

 

Paradox genug, geriet die auktoriale Qualität des Fotobuchs den wenigen Protagonisten, die sich in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit für eine Emanzipation der Fotografie innerhalb der Bildkünste einsetzten, sehr spät ins Visier. Auch heute noch spiegeln die Fachbibliotheken von Steinert, Gruber, Steinorth und Krauss – allesamt Schlüsselfiguren der westdeutschen Fotokultur nach 1945 –, ein nahezu enzyklopädisches Interesse an dem bildgebenden Verfahren. Über Jahrzehnte galt es für sie, anhand von Büchern Informationen zu den technischen und kulturellen Aspekten der Fotografie zusammenzutragen, sei es in Monografien, Katalogen oder Periodika. Bis in unsere Zeit bilden ihre Privatbibliotheken, die in institutionelle Trägerschaft übergingen, probate Wissensspeicher. Aus ihnen lässt sich im Detail zeithistorisches Wissen rekonstruieren.  

 

Es dauerte bis Mitte der 1980er Jahre, bis „Das gedruckte Bild“ erschien. Der gleichnamige Katalog der photokina-Bilderschauen zeitigte von Louis Daguerre bis zu Diane Arbus den ersten Versuch, einen Kanon über Bücher zur Fotografie zu erstellen. Ihm folgten seit der Jahrtausendwende ein ganzer Reigen von „Books on Photobooks“. Sie suchten das weite Spektrum der globalen Fotobuchkultur historisch, national oder genrebezogen immer ausdifferenzierter zu fassen. Im Zuge ist ein teils hyperventilierender Nischenmarkt entstanden, Sammlerstücke und Meisterwerke erzielen mitunter Preise im fünfstelligen Eurobereich. 

 

Und die Gegenwart? Längst hat sich das Fotobuch als Konterpart zur digitalen Bilderflut etabliert. „Sehen, blättern, denken!“ lautet mehr denn je die Forderung an die Lektüre. Fotokünstlerinnen und Fotokünstler greifen heutzutage ebenso oft auf die feste Buchform zurück wie Akteure aus dem Kommunikationsdesign oder aus dem bildjournalistischen und dokumentarischen Bereich. Foren wie das Fotobookfestival in Kassel und das PhotoBookMuseum in Köln bieten hierzulande Plattformen zur diskursiven Auseinandersetzung. Ob als autonome Ausdrucksform oder als Wissens- und Gedächtnisinstrument, der internationalen Fotoszene ist mittlerweile bewusst: Ohne das Buch ist das Medium Fotografie nicht denkbar. Die indische Fotografin Dayanita Singh brachte es kürzlich einmal auf den Punkt: „A Book is a Conversation with a Stranger in the Future.“ 

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/22.

Christoph Schaden
Christoph Schaden ist Kunst- und Fotohistoriker sowie Professor für Bildwissenschaft an der Technischen Hochschule Georg Simon Ohm in Nürnberg.
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