„Die Liebe der Türken und Deutschen zueinander ist so alt, dass sie niemals zerbrechen wird.“ Dieses Zitat von Otto von Bismarck freilich stammt aus Zeiten, in denen Jan Böhmermann noch keine Gedichte über den türkischen Staatspräsidenten Erdoğan verfasst hat. Doch zwischen Bismarck und Böhmermann stellt sich heute die Gretchenfrage des deutsch-türkischen Verhältnisses neu – uns und unseren türkischen Freunden: Wie halten wir es mit der Liebe zueinander? Und woraus speist sie sich?
Die Kultur jedenfalls hat den Austausch unserer Länder neben Wissenschaft und Politik wesentlich geprägt, mehr noch, der Austausch der Kulturen hat beide Länder bereichert. Ohne deutsch-türkische Beziehungen hätte der Berliner Romanist und NS-verfolgte Jude Erich Auerbach sein bahnbrechendes Werk „Mimesis“ nie geschrieben. Der Architekt Bruno Taut hätte Teile der Universität Ankara Mitte der 1930er Jahre nie gebaut, an der unter anderem auch bedeutende Politiker wie der erste frei gewählte Ministerpräsident Adnan Menderes, der ehemalige Außenminister Erdal İnönü oder der amtierende Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu studiert haben. Der Regisseur Fatih Akın hätte seine wunderbaren Filme nicht gedreht und der Schriftsteller Feridun Zaimoğlu seine großartigen Romane nicht geschrieben. Ohne den Austausch von Menschen und Ideen, der viel älter ist als unsere Länder selbst, hätte es diese Werke nicht gegeben.
Heute gehen die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei durch eine ihrer schwierigsten Phasen: Der zunehmend autoritäre Kurs der türkischen Regierung belastet die Kulturschaffenden in ihrer Freiheit zur kritischen Reflexion. Und er erschwert den Austausch von Wissenschaftlern, Studierenden, Schülern, Künstlern und Journalisten. Insbesondere kritische Journalisten werden drangsaliert und inhaftiert, prominenteste Beispiele der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel, aber auch die inzwischen wieder freigelassene, von der Haft gezeichnete Schriftstellerin Asli Erdoğan. Angesichts wachsender Restriktionen fragen sich viele Intellektuelle der Türkei dieser Tage: „Sollen wir gehen oder sollen wir bleiben?“ Sie fragen sich aber vor allem: „Was passiert mit unserem Land, wenn wir es verlassen?“
Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass der türkische Beitrag auf der Biennale di Venezia die Situation in der Türkei in einer nicht zu erwartenden Klarheit reflektiert. Der türkische Künstler Cevdet Erek hat eine Installation zwischen Fußballstadion und Haftanstalt in der Arsenale aufgebaut, eine Soundinstallation lässt wechselnd Flüstertöne und Schüsse in die Wahrnehmung dringen. Das alles ist durch die Besucher begehbar, rings um die umzäunten und stacheldrahtbewehrten leeren Tribünenränge, die uns zum anwesenden Zuschauer des abwesenden Zuschauens machen. Stattdessen sollen wir, so meine Lesart, hinhören.
In der Wirklichkeit des Alltags hören wir seit Mitte 2016 von über 97.000 vorläufigen Festnahmen und Verhaftungen – darunter Militärs, Polizisten, Richter, Staatsanwälte und Zivilisten. Aktuell befinden sich noch über 47.000 Menschen in Untersuchungshaft. Darüber hinaus wurden mehr als 143.000 Mitarbeiter aus zahlreichen Institutionen entlassen.
Dem Künstler Cevdet Erek, der sagt, auf ihn sei von der Regierung bei der Gestaltung des Biennale Beitrags „kein direkter Druck ausgeübt worden“, muss vor diesem Hintergrund für seine Courage Respekt gezollt werden. Auch für seine deutlichen Worte im dpa-Interview zur Situation in der Türkei: „Generell ist es überhaupt keine gute Zeit.“
Erek, über dessen Werk in der Türkei jedoch kaum berichtet wird, zeigt zugleich die große Chance für das Verhältnis zwischen der Türkei und Deutschland: Die Lebendigkeit der Zivilgesellschaft, die sich auch bei der Abstimmung zum Referendum in beachtlicher Größenordnung gegen eine Machtkonzentration und den Abbau demokratischer Rechte gestemmt hat; wenngleich für den Moment vergebens.
Umso wichtiger, dass Kunst, Kultur und Wissenschaft gerade jetzt vorpolitische Freiräume schaffen, um Austausch zu vertiefen und die Mittlerorganisationen zu unterstützen. Institutionen wie das Goethe-Institut, die Auslandsschulen oder die Kulturakademie Tarabya, in der Künstler Stipendien und einen Raum für Freiheit und Kreativität erleben, leisten wertvolle Arbeit. Im Rahmen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik schaffen sie Dialogräume, bauen Brücken und entwickeln neue Perspektiven.
Darauf zielt auch die Arbeit der Jugendbrücke, die den Austausch zwischen Jugendlichen aus der Türkei und Deutschland fördert. Junge Menschen, die beide Kulturen kennen, beide Sprachen sprechen, sie sind auch Fachkräfte von morgen – auf ihr Wissen wird die Türkei schon bald angewiesen sein. Es wird einen Unterschied machen, ob diese jungen Menschen mit Auslandserfahrung, mit interkulturellen Kompetenzen und mit Fremdsprachenkenntnissen ihr Leben planen können oder ohne. In der Wissenschaft gibt es gelebte Bildungskooperationen, Deutschland ist nach den USA das zweitbeliebteste Zielland für türkische Studierende.
Wissenschaftlern, die in der Türkei keine Perspektive mehr haben, gar von Verfolgung bedroht sind – rund 6.000 wurden seit dem Putschversuch im Juli 2016 aus den Universitäten entlassen –, bietet die Philipp Schwartz-Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung die Möglichkeit, in Deutschland ihre wissenschaftliche Arbeit an einer Hochschule oder Forschungseinrichtung fortzuführen. Zwischenzeitlich gibt es mehr Bewerber aus der Türkei denn aus Syrien.
Die Politik sieht also keineswegs tatenlos zu, wie die deutsch-türkischen Beziehungen den Interessen Einzelner geopfert werden. Aktuell werden als europäische Kooperation von Goethe-Institut, Institut Français, Svenska Institutet sowie türkischen Partnern wie Anadolu Kültür mit Unterstützung des Auswärtigen Amts drei „Orte der Kultur“ in der Türkei konzipiert: In Diyarbakır, Gaziantep und Izmir sollen ab diesem Herbst Mikrofonds der Zivilgesellschaft dabei helfen, Kulturprojekte zu realisieren, Qualifizierungsprogramme für Künstlerinnen und Kulturmanagerinnen stattfinden und kulturelle Bildung für Kinder und Jugendliche angeboten werden.
Die deutsch-türkischen Beziehungen mögen in einer Krise stecken, doch die Geschichte bestätigt vor allem ihre Stärke: Die Verflechtung zwischen unseren Ländern, familiär, kulturell und wirtschaftlich, lässt sich nicht so leicht auflösen und nicht voneinander trennen. Die deutsche Außenpolitik heute tut gut daran, denen zu helfen, die diese Netze hier und da jeden Tag aufs Neue knüpfen.