Spielend sterben im Schützengraben

Der Erste Weltkrieg in Computerspielen

Computerspiele mit historischem Setting produzieren und reproduzieren Geschichtsbilder und haben damit einen erheblichen Einfluss auf Erinnerungskulturen weltweit. Denn Erinnerung ist ein hochgradig dynamischer und aktiver Prozess. Das, was ein Individuum von einer historischen Begebenheit zu wissen glaubt, steht im ständigen Austausch mit kollektiven und besonders populärkulturellen Bildern des Vergangenen. Mit zunehmender Reichweite und gesellschaftlicher Durchdringung des Computerspiels wächst auch dessen Verantwortung – oder vielmehr: die Verantwortung der Entwicklerinnen und Entwickler –, nicht fahrlässig oder gar böswillig mit der Wirkmacht des Mediums umzugehen.

 

Viele Akteure der Computerspielbranche folgen allerdings bis heute dem Irrglauben, sie könnten Spiele im historisch-politischen Vakuum erschaffen; aussagenlose Gebilde, die sich nur dem unkomplizierten Spaß verpflichtet fühlen. Der Historiker und Kulturwissenschaftler Eugen Pfister hat Aussagen international agierender und finanzstarker Publisher- und Entwicklerstudios betrachtet und kommt zu dem Schluss: Für Viele sind Computerspiele weiterhin „nur Spiele“; ein spielinhärenter Kommentar zu erinnerungskulturellen oder politischen Debatten, nicht mehr als ein Fleck auf der lupenreinen Weste des wertneutralen Unterhaltungsprodukts. Dies ist gewiss ein Irrtum. Auch eine Auslassung oder eine Akzentuierung sind schon mit einer Aussage verbunden; auch kein Kommentar zur politischen Strahlkraft eines Spiels ist ein Kommentar.

 

Ich bin an dieser Stelle so optimistisch, davon auszugehen, dass sich ein Großteil der Blockbuster-Produzenten der Branche durchaus bewusst ist, dass das Gerede vom unpolitischen Spiel eben nicht viel mehr ist als Gerede. Es sind schlussendlich ökonomische Interessen, die geradezu dazu mahnen, sich bloß nicht festzulegen. Es sich mit einer Zielgruppe zu verscherzen, die mit dem eigenen Geschichtsbild nichts anzufangen weiß, ist schließlich Gift für die Umsatzzahlen. Und an manche Themen möchte man sich dann und deswegen sogar gar nicht rantrauen. Eines dieser Themen: der Erste Weltkrieg.

 

Der Historiker Adam Chapman hat Computerspiele zusammengetragen, die sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigen, d. h. diesen Konflikt als Setting verwenden, um etablierte Genres wie den Ego-Shooter oder das Echtzeitstrategiespiel in neuem Gewand zu präsentieren. 58 Spiele zählt er, die sich diesen für die Menschheit so einschneidenden Jahren widmen. Man mag an dieser Stelle stutzig werden, scheint 58 doch eine bemerkenswert geringe Zahl. Und tatsächlich: Eine grobe und keineswegs erschöpfende Zählung bei Wikipedia führt zutage: Zum Zweiten Weltkrieg sind mindestens vier Mal so viele Spiele veröffentlicht worden. Bedenkt man, dass die Historikerin Angela Schwarz bei einer Auswertung von Historienspielen, die zwischen 1981 und 2008 erschienen, schon rund 300 Spiele identifizierte, die sich dem Zweiten Weltkrieg widmen, so ist – Stand heute – noch von einigen mehr auszugehen.

 

Und noch etwas fiel Adam Chapman auf: Er glich den überschaubaren Korpus der Computerspiele zum Ersten Weltkrieg mit dem ab, was er als primäres Bild der Erinnerung an den Weltenbrand identifizierte: das Leiden und Sterben des einfachen Soldaten in den Schützengräben der Westfront. Nur 18 der 58 untersuchten Spiele folgen diesem populärkulturell so dominanten Bild des Ersten Weltkrieges. Die restlichen Spiele zeigen sich vielmehr als Simulation von Luft- und Seeschlachten im groben Kontext dieses Krieges, fernab vom zufälligen, massenhaften und sinnlosen Sterben in Erdlöchern.

 

Wie kann das sein? Die populärkulturellen Bildwelten, die beispielsweise „Der Soldat James Ryan“ für den Zweiten Weltkrieg etablierte, waren und sind im Computerspiel dominant. Doch der Erste Weltkrieg ist anders, vielleicht auch komplizierter, möglicherweise zu undurchsichtig für ein Medium, dem es oft so schwerfällt, sich festzulegen und eine Aussage zu treffen.

 

Ein prominentes und erfolgreiches Beispiel für eine Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg im Computerspiel ist das Serious Game „Valiant Hearts: The Great War“. Spielerinnen und Spieler folgen dem Franzosen Emile, dem US-Amerikaner Freddie, dem deutschen Karl und der Belgierin Anna durch die Wirren des Ersten Weltkrieges. Die tragische Geschichte der vier Protagonisten wird durch einblendbare Kurztexte ergänzt, die das Geschehen historisch kontextualisieren. Für seine gewiss nicht fehlerfreie, aber doch sehr ernsthafte und edukative Annäherung an den „Großen Krieg“ wurde das Spiel zurecht gelobt.

 

Doch erst mit dem Erscheinen des Ego-Shooters „Battlefield 1“ trat ein Blockbuster-Titel auf den Plan, der den Ersten Weltkrieg in grafischen Bombast und in eindringlich-realistische, statt comichaft-abstrakte Bilder hüllte. Die Sorge vieler Historikerinnen und Historiker war groß, Electronic Arts und Entwickler DICE würden das Sterben in den Schützengräben zum blutigen Spektakel verkommen lassen.

Dass es überhaupt eine derart kostenintensive und damit mehr oder weniger zum Erfolg verdammte Produktion wie „Battlefield 1“ gibt, die sich dem so rudimentär bestellten Feld des Ersten Weltkrieges im Computerspiel annimmt, ist schon beachtenswert. Denn tatsächlich zwingt das gewählte Setting die Entwicklerinnen und Entwickler dazu, sich in einem umkämpften Erinnerungsdiskurs zu positionieren. Ich möchte noch einmal den Zweiten Weltkrieg als Vergleichsobjekt heranziehen. Hier ist die Sache klar: Die Guten kämpfen gegen die Bösen, die Alliierten gegen die Nationalsozialisten und deren Verbündete. Zu tiefergehenden Auseinandersetzungen lassen sich auch hier die Entwicklerinnen und Entwickler nicht hinreißen, weswegen beispielsweise der Holocaust in der Regel ausgeblendet wird. Doch zumindest in dieser Grundstruktur von Gut und Böse ist man sich mit der Zielgruppe der Spiele einig. Das ist gut fürs Geschäft und vielfach dann schon ausreichend.

 

Und beim Ersten Weltkrieg? Hier ist weniger Platz für den typischen Heldentopos. Dem ziellosen Sterben in den Schützengräben wird vielfach als der Kampf von Opfern gegen Opfer gedacht. Doch auch hier besteht keine Einigkeit, vielfach konkurrieren nationale Erinnerungskulturen um Deutungshoheit. Klar ist: Es ist nicht so klar.

 

Diese ungeklärten Verhältnisse führen zu Konflikten mit dem Spielsystem des Ego-Shooters. Wo man als Spielerin oder Spieler nach dem Sieg über die Nationalsozialisten notfalls noch selbst die sowjetische Fahne über dem Reichstag hisst, da fehlt im Ersten Weltkrieg der Raum für die dem Ego-Shooter eigenen Allmachtsfantasien – einer gegen alle. Im Schützengraben bei einem Senfgasangriff dahinzusiechen, passt so gar nicht zum gewohnten Shooter-Erlebnis.

 

Auch „Battlefield 1“ vermag diesen Konflikt nicht aufzulösen, macht aber doch Andeutungen und Versuche, das Genre im Angesicht des schwer greifbaren Konfliktes weiterzuentwickeln. Die erste Mission des Spiels beginnt beispielsweise mit der Einblendung „Was folgt, sind Frontkämpfe. Du wirst vermutlich nicht überleben“ und konterkariert damit die Idee des unsterblichen Shooter-Helden. Und tatsächlich: Stirbt der spielbare Charakter in dieser Mission, fährt die Kamera heraus, zeigt den Namen des Soldaten und dessen Todesjahr und lässt Spielerinnen und Spieler dann die Kontrolle eines anderen Soldaten übernehmen – bis auch dieser wieder das Zeitliche segnet. Ein spannender Bruch mit dem Erwarteten, der zeigt, dass sich die Entwicklerinnen und Entwickler bei DICE durchaus mit der Thematik auseinandergesetzt haben.

 

Vielfach wählen sie aber auch den einfachen, den gewollt und vermeintlich unpolitischen Weg, den des geringsten Widerstands. Anstatt sich beispielsweise mit komplexen Feindschaftsverhältnissen, Motiven und moralischer Mehrdeutigkeit auseinanderzusetzen, werden die Mittelmächte in der Einzelspielerkampagne doch wieder zum klaren Feindbild – obwohl Österreich-Ungarn, das Osmanische und das Deutsche Reich zumindest im Mehrspielermodus durchaus spielbar sind. Auch verkommen Schützengräben, Giftgas, Stacheldraht und ähnliches im weiteren Verlauf des Spiels doch wieder nur zu wiedererkennbaren, weil populärkulturell verankerten Elementen, die für ein gefühlt authentisches Weltkriegserlebnis mit dem nun doch wieder unsterblichen Spielercharakter sorgen sollen.

 

Doch immerhin: Der erinnerungskulturell weiterhin unstete Erste Weltkrieg ist gewiss kein einfach zu bespielendes Szenario, wie sich an der geringen Zahl an Computerspielen zum Thema zeigt. Es hätte also schlimmer kommen können. „Battlefield 1“ dürfte dem populärkulturell insgesamt recht wenig bearbeiteten Feld seine eigene Note hinzugefügt haben. Da können die Entwicklerinnen und Entwickler noch so oft sagen, dass es nur um den Spaß geht und um interessante Spielerlebnisse in Panzer und Flugzeug: Durch ihr Spiel haben sie eine Aussage gemacht. An dieser gibt es sicherlich einiges zu kritisieren, doch hat sich gezeigt, dass auch starre Genrestrukturen noch aufgeweicht werden können im Angesicht einer erinnerungspolitischen Herausforderung. Das stimmt optimistisch.

Felix Zimmermann
Felix Zimmermann promoviert in Köln zu Atmosphären im Computerspiel.
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