Inspiration für die Fragen unserer Zeit

Beethoven komponierte im Spannungsfeld von künstlerischer Entfaltung, Politik und Ökonomie

Eigentlich wollte ich gar keinen Beitrag für Politik & Kultur über Ludwig van Beethoven schreiben, weil es keinen anderen Komponisten für mich gibt, der so viele Fragen unbeantwortet lässt, allein lässt, wie Beethoven. Was will er, der große Ludwig van Beethoven, denn mit seiner schier endlosen Pause am Schluss des einleitenden Satzes „Adagio sostenuto e espressivo“ der Sonate für Klavier und Violoncello in g-moll, Opus 5 Nr. 2, sagen? Mich Stille lehren, einen Raum schaffen, der in der Reflexion von Vergangenem auf das Kommende, noch Unbekannte vorbereitet? Ein Freund und profunder Kenner des Beethoven’sches Œuvre gab mir den Rat des „spannungsvollen Innehaltens“. Welch ein aktueller Bezug zu unserer derzeitigen Situation.

 

Vielleicht liegt mein Zögern auch nur an meiner musikalischen Prägung, die seit dem 8. Lebensjahr wesentlich durch das reiche kirchenmusikalische Leben in der evangelischen Kirche Berlin-Neu-Westend, wozu die sonntägliche Predigt mit der dafür von Johann Sebastian Bach vorgesehenen Kantate als Teil der Verkündigung gehörte, geprägt wurde. Als Continuo-Cellist habe ich so nahezu alle Kantaten und Passionen von Bach erfahren dürfen. Meine verehrten Cellolehrer Helma Bemmer und Markus Nyikos führten mich darüber hinaus in die weite Welt der Musik, zu der natürlich auch die Werke von Beethoven in der Kammermusikliteratur gehörten. Ihre Hinweise, dass Beethoven seine Kompositionen sehr genau bezeichnet habe, führten in der versuchten Ausführung bei mir zu regelmäßigen Konfrontationen mit dem Unerwarteten.

 

Wenn z. B. ein Sforzato in einer Piano-Passage, vermeintlich unvermittelt, plötzlich wie ein Blitz für die Störung des inneren Klangbildes sorgt. Diese Disruptionen im Verbund mit Passagen weltvergessener Zartheit kündigen sich eben oft nicht an und sorgen für ein Wechselbad der Gefühle. Ein Wechselbad, dem ich mich anfangs versperrte, weil ich diese Disruptionen in einer vermeintlich „schönen“ Linie ja nicht nur nicht verstand, sondern sie zunehmend sonderbar bis abstoßend fand. Erst sehr viel später wich meine Verweigerungshaltung einer zunehmenden Neugier auf das Unbekannte, auf das Fremde, auf das Verstörende.

 

Ein Spiegel der inneren Gefühlswelt, ein Spiegel musikalischen Schaffens und ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit – der Lebenszeit von Ludwig van Beethoven. Die Annäherung an den „empfindsamen Titan“, wie es Christine Eichel in ihrem Buch beschreibt, ist ein Wahrnehmen von Unterschieden und Gegensätzen, ein Erkennen von Gemeinsamen und Trennendem, ein Akzeptieren bis hin zum Annehmen von ehemals abgelehnten Gefühlen und Haltungen, eine Vergewisserung in der je eigenen individuellen wie gesellschaftlichen Verortung sowie das Aushalten scheinbar unerreichbarer Sehnsüchte.

 

Ein Schatz, den sich jeder in der Auseinandersetzung – nicht nur mit dem Schaffen von LvB – erwerben kann. Ein Schatz, der für alle Lebensbereiche des Menschen Früchte trägt, weil die Gabe, die jedes Neugeborene mit auf die Welt bringt, die erwachende Neugier in der Wahrnehmung der Umwelt, essenziell für unser Zusammenleben ist. Die angeborene Neugier eines jeden Menschen auf seinem Lebensweg zu erhalten und zu befördern, gehört in unserer Zeit zu den zentralen Herausforderungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Beethovens von der Aufklärung geprägte Hoffnung „Alle Menschen werden Brüder“ ist ein Mosaikstein in diesem Spannungsbogen der fortlaufenden Standortbestimmung für sich selbst wie für das Zusammenleben in Gesellschaften.

 

Dieser Prozess der Wahrnehmung und Annäherung an Unbekanntes ist ein gesellschaftspolitisch relevanter Vorgang, weil er Sichtachsen auf unbekannte Welten und das Erkennen von Zusammenhängen ermöglicht. Weil er Fragen eröffnet, ohne vorab schon die Antworten zu kennen. Weil er Visionen Raum gibt, ohne in der Ökonomisierungsdiktatur geschreddert zu werden. Themen, die zu Beethovens Zeit so aktuell gewesen sind wie heute.

 

Zweifelsohne ist Beethoven ein gesellschaftspolitisch wirksamer Komponist gewesen. Ein Komponist in dem Spannungsfeld von künstlerischer Entfaltung, Politik und Ökonomie. So kann die Beschäftigung mit dem Leben und Werk von Ludwig van Beethoven eine Inspiration für die gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit sein.

 

An erster Stelle steht eine Beschäftigung mit den Quellen und erst weit danach mit den Interpretationen, den Zuschreibungen und den Vereinnahmungen, wie wir sie gerade im aktuellen Jubiläumsjahr erleben. Vereinnahmungen, die manchmal in ihrer naiven Simplifizierung, ihrer politischen Instrumentalisierung und ihrer merkantilen Ausbeutung wohl unvermeidlich sind, aber dennoch wehtun.

 

Die Beschäftigung mit den Quellen ist vor allem eine Herausforderung für die Bildungspolitik der Länder, die in den überfrachteten und fragmentierten Lehrplänen und verschulten Studiengängen wenig Raum für diese Lernerfahrung lässt.

 

Die Botschaft, dass die künstlerischen Schulfächer und der Sport die zentralen Fächer für die Erschließung der Welt sind, könnte im Verbund mit den übrigen Disziplinen den Blick auf Zusammenhänge eröffnen. Eine Botschaft, die ich mir vom Jubiläumsjahr Ludwig van Beethoven erhoffe.

 

Die Wirkungskraft der Musik in ihrer beispiellosen Tiefe und Breite auf den Menschen sowie die Wahrnehmungsschärfung für den Augenblick – soeben erklungen, schon verklungen – bilden für diese Hoffnung einen guten Nährboden.

 

Als gesellschaftspolitischer Kompass gilt die Erkenntnis von Ludwig van Beethoven: „Musik ist höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie.“

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.

Christian Höppner
Christian Höppner ist Generalsekretär des Deutschen Musikrates und Präsident des Deutschen Kulturrates a. D. Er unterrichtet Violoncello an der Universität der Künste Berlin.
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