In der schon angesprochenen Konferenz berichtete die Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar, Ulrike Lorenz, dass bei der konzeptionellen Neuaufstellung der Stiftungsangebote inklusive Gestaltung von Anfang an als Kriterium eine Rolle spiele und nicht erst nachträglich draufgesetzt werde. Wie bewerten Sie diese Herangehensweise?
Ich würde sie an ihren Taten messen wollen, ehe ich anfange zu loben. So etwas sagen ja erst mal viele. Es sind oft Lippenbekenntnisse, die schnell scheitern, wenn es um Geld oder um Denkmalschutz geht. Oder um Brandschutz, wenn am Ende wieder nichtbehinderte Menschen entscheiden: „Ja, dann lassen wir das halt.“ Wer begleitet solche Planungsprozesse? Sind es – wie so häufig – zu hundert Prozent Menschen ohne Behinderung, die dann wieder nur an die Rampe denken, aber nicht daran, wie es gehörlosen Menschen geht? Es gibt eine Art „Vergessenheit im Alltag“.
Ich habe einfach schon zu viele Lippenbekenntnisse gehört und zu viel gesehen, als dass ich bei Ankündigungen gleich Lob verteilen kann. Und – das ist überhaupt keine Kritik an Frau Lorenz – man muss natürlich auch die Frage stellen: Warum erst jetzt? Wir leben im 21. Jahrhundert, es war und ist unglaublich viel Geld im System – was habt ihr in den vergangenen 100 Jahren gemacht?
Vielleicht gab es in den vergangenen 100 Jahren zu wenig Möglichkeiten für Aktivisten wie Sie, auch mit modernen Medien Öffentlichkeit herzustellen. Sie machen einen eigenen Podcast, geben ein Magazin heraus, verlinken unter „Die Neue Norm“ aktuelle Informationen zum Thema Inklusion und Behinderung. Wen erreichen Sie damit? Hat das zunehmende Wirkung über einen engeren Kreis von Interessentinnen und Interessenten hinaus?
Aktivisten wie mich gab es schon immer – aber man konnte sie offenbar auch immer ignorieren.
Wir versuchen, mit unseren Informationen Brücken zu schlagen zu anderen, reichweitenstarken Medienpartnern. Das ist nicht leicht, weil das Thema „Inklusion“ vielen nach wie vor fremd ist, viele meinen auch, keine eigenen Berührungspunkte dazu haben zu müssen.
Oft tragen wir Eulen nach Athen – wir informieren sehr stark unsere eigene Community und ein paar neu hinzukommende Interessierte. Unsere Arbeit ist auch der Versuch, Wissen zu teilen. Wissen aus anderen Ländern, aus anderen Communities, um Menschen auf neue Ideen kommen zu lassen.
Ich merke schon, dass die Beiträge auch gelesen werden von Verantwortlichen in Unternehmen und in der Politik, die erst durch solche Informationen auf die Idee kommen, sich mit dem Thema „Inklusion“ intensiver auseinanderzusetzen.
Ein Problem der deutschen Mehrheitsgesellschaft ist, dass sie behinderte Menschen immer noch hauptsächlich in Einrichtungen vermutet: Behindertenwerkstätten, Behindertenwohnheimen, behinderte Reisegruppe, Tanzgruppe, Musikgruppe.
Sie werden so gut wie nie erlebt als Individuen: als Menschen, die in eigenen vier Wänden wohnen, als Menschen, die einen Beruf ausüben, die Hobbys oder Leidenschaften nachgehen. Die Wahrnehmung als Gruppenangehörige führt dazu, dass behinderte Menschen als Individuen vergessen werden. Auch von Politikern, die Entscheidungen zu treffen haben.
Ihr zentrales Plädoyer scheint zu sein, dass überall dort, wo es um Entscheidungen geht, die mit Inklusion zu tun haben, Behinderte von Anfang an mit am Tisch sitzen und Entscheidungsrechte haben müssen, weil sie über die wirkliche Expertise verfügen.
Absolut. Ebenso, wie auch Frauen in alle Entscheidungsprozesse einbezogen werden müssen, wenn wir eine gemeinsame Gesellschaft gestalten wollen. Und so wie Frauen nicht nur bei spezifischen „Frauenthemen“ einzubeziehen sind, sondern bei der gesamten Bandbreite der Entscheidungen, gilt das für behinderte Menschen gleichermaßen. Dabei können doch neue, großartige Ideen herauskommen. Menschen mit Behinderung haben nicht nur etwas zu „Behindertenfragen“ zu sagen. Sie haben eine ganz eigene Perspektive auf Gesellschaft, deren Kenntnis für die ganze Gesellschaft wichtig und nützlich ist.
Das Mindeste, wenn es um Barrierefreiheit und Inklusion geht, sollte sein, dass dazu vorrangig oder sogar ausschließlich Menschen mit Behinderung gefragt werden, und nicht, wie es jetzt meistens der Fall ist, ausschließlich Menschen ohne Behinderung.
Plakativ gefragt: Welche zwei oder drei Maßnahmen sehen Sie als vordringlich, um die Situation behinderter Menschen im Kulturbereich zu verbessern?
Quoten könnten hilfreich sein. So wie Frauenquoten die Präsenz von Frauen verbessern, können das auch Quoten für Menschen mit Behinderung. Beispielsweise, wenn Konferenzen oder Festivals veranstaltet werden. Mindestquoten von behinderten Menschen bei den Akteuren würden für Sichtbarkeit sorgen.
Hilfreich wäre auch, wenn Casting- und Booking-Agenturen, all die, die Datenbanken für Künstlerinnen und Künstler betreiben, viel mehr auf Vielfalt in ihrem Portfolio achten, sodass sie bei Anfragen von Produktionsfirmen auch gezielt Vorschläge machen können und Menschen mit Behinderung empfehlen.
Es sind kleine Stellschrauben, die Großes bewirken können.
Wenn die Sichtbarkeit steigt, entsteht vielleicht auch ein Markt für die Ausbildung behinderter Schauspieler, den es derzeit nicht gibt.
Ein Punkt, der mir noch wichtig ist: Oft höre ich von Verantwortlichen den Satz, man dürfe das Publikum nicht überfordern. Sie würden es nicht verstehen, wenn behinderte Menschen hierfür oder dafür eingesetzt würden. Den Satz halte ich für falsch. Man verkauft das Publikum für borniert und versteckt sich dahinter.
Solche Vorurteile sind die älteste Form von Behinderung. Ich denke, dass in der Realität das Publikum sehr viel weiter und auch bereit ist, sich auf Angebote einzulassen.
Wenn ich in ein Theater gehe und mir ein Stück angucken will, dann bin ich doch auch bereit für Neues. Zu behaupten, der Einsatz von behinderten Menschen überfordere das Publikum, ist einfach nur arrogant.
Vielen Dank.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.