5. Juni 2008 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Positionen

Frühkindliche kulturelle Bildung: Potentiale für unsere Gesellschaft


Stellungnahme des Deutschen Kulturrates

Berlin, den 05.06.2008. Frühe Förderung bildet die Grundlage für ein lebenslanges Lernen, das von der frühkindlichen über die schulische, außerschulische, berufliche bis hin zur weiterbildenden Bildung reicht. Nicht zuletzt durch die Debatten um das Abschneiden der deutschen Schüler bei den PISA-Studien hat sich im Bereich der frühkindlichen Bildung ein Paradigmenwechsel vollzogen. Während es vorher in Kindertagesstätten primär um die Betreuung ging, wurde seit dem Jahr 2000 verstärkt die Förderung und Bildung in den Blick genommen. Die frühkindliche Bildung soll – so z.B. das Forum Bildung – den Schuleinstieg von Kindern erleichtern. Im Zuge dieser Debatte haben die Bundesländer Bildungs- und Erziehungspläne ausgearbeitet, die sich explizit mit der Förderung frühkindlicher Bildung beschäftigen. Angesichts der Erkenntnis, dass die Bildung eines Kindes spätestens unmittelbar nach der Geburt beginnt und ganzheitliche Bildungs- und Entwicklungsprozesse für die frühkindliche Lebensphase konstitutiv sind, wird die Bedeutung kultureller Bildung in diesem Lebensalter teilweise noch unzureichend berücksichtigt. Um die Kreativpotentiale von Kindern, insbesondere von Kleinkindern, intensiv zu fördern, müssen ausreichende kulturelle Kompetenzen der Akteure in Krippen, Eltern-Kind-Gruppen und in der Kindertagespflege herangebildet werden sowie Kulturfächer genuiner Bestandteil der Erzieherinnen- und Erzieherausbildung sein. Entwicklungspsychologische sowie neurobiologische Forschungsergebnisse müssen in der Praxis angemessen berücksichtigt werden. Hierzu sind qualitative und quantitative Voraussetzungen zu schaffen, was entsprechende politische und finanzielle Rahmenbedingungen erfordert.

 

Der Deutsche Kulturrat, Spitzenverband der Bundeskulturverbände, hat bereits in einer Reihe von jüngst erschienen Positionspapieren1 das Thema frühkindliche Bildung aufgenommen. In der vorliegenden Stellungnahme soll die herausragende Bedeutung der frühkindlichen Bildung für spätere Bildungsprozesse noch einmal gesondert herausgestellt werden. Dabei wird insbesondere die erforderliche Verzahnung von Bildung und Betreuung sowie die zentrale Bedeutung von Neugier-Bewahrung und Lernfreude in den Entwicklungsphasen von Kindern betont. Räume und vor allem kompetente Anregungen für Phantasie und Kreativität sind dafür notwendig.

 

Im Jahr 2006 besuchten im Durchschnitt 60,4 Prozent aller Kinder im Alter von null bis zum Schuleintritt eine Kindertageseinrichtung. Untersuchungen belegen, dass der Besuch einer Kindertageseinrichtung in der Regel positive Auswirkungen auf Sprachentwicklung, soziale Kompetenzen und zukünftige Bildungschancen von Kindern hat. Insofern ist der Besuch von Kindertagesstätten insbesondere für Kinder aus bildungsfernen Schichten oder mit Migrationshintergrund wichtig. Laut Ergebnissen des Deutschen Jugendinstituts nutzen Eltern aus bildungsfernen Milieus sowie Eltern mit Migrationshintergrund frühkindliche Bildungsangebote in Kindertageseinrichtungen weniger als Eltern aus anderen Bevölkerungskreisen. Insbesondere in den bildungsfernen Milieus findet in geringerem Maße frühkindliche Bildungssozialisation statt. Dies wird beispielsweise in Bezug auf die Leseförderung durch die Studie „Vorlesen in Deutschland 2007“ der Deutschen Bahn in Kooperation mit Stiftung Lesen und Die Zeit belegt.

 

Alle Bundesländer haben für den Bereich der frühkindlichen Bildung Bildungspläne für das dritte Lebensjahr bis zum Grundschuleintritt erarbeitet, die die Inhalte und den Umfang der in Kindertageseinrichtungen zu vermittelnden Kompetenzen festschreiben. Die Kultusministerkonferenz und die Jugendministerkonferenz haben sich auf die folgende Bildungsbereiche2 für die frühkindliche Bildung verständigt:

 

  • Sprache, Schrift, Kommunikation
  • Personale und soziale Entwicklung, Werteerziehung/religiöse Bildung
  • Mathematik, Naturwissenschaften, (Informations-)Technik
  • Musische Bildung/Umgang mit Medien
  • Körper, Bewegung, Gesundheit
  • Natur und kulturelle Umwelten

 

Der kulturellen Bildung als Querschnittsaufgabe kommt in den Bildungsplänen eine wichtige Funktion zu. Kulturelle Bildung als grundlegende Befähigung zu künstlerisch-kulturellen Ausdrucksformen eröffnet gerade kleinen Kindern Lernfelder, die ihren Entwicklungsphasen angemessen sind. Sie ermöglicht die ganzheitliche Erfahrung des Kindes, einer Erfahrung seiner selbst wie der Welt, in der es aufwächst und unterstützt in diesem Sinne Sprach- und Lesekompetenz, gibt Anregungen für aktives Musizieren und bildnerische Gestaltung, vermittelt verschiedene Ausdrucksformen im Bereich Bewegung, Tanz und darstellendes Spiel sowie im Umgang mit verschiedensten Medien. Kulturelle Bildung vermittelt Kulturtechniken und kulturelle Kompetenzen, die für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern von entscheidender Bedeutung sind. Kulturelle Bildung weckt Interesse für unterschiedliche kulturelle Einflüsse und gibt zugleich Anregungen, sich kreativ mit ihnen auseinander zu setzen. Kulturelle Bildung verbindet Tun, Wissen und Verhalten, ermöglicht besonders die Heranbildung emotionaler Kompetenz und vermittelt dadurch angemessene Verhaltensweisen im Umgang mit Menschen.

 

Folgerungen für Kindertageseinrichtungen
Kindertageseinrichtungen bieten das Potential, Bildungschancen und Teilhabegerechtigkeit frühzeitig zu fördern und wichtige Kompetenzen für den weiteren Bildungsweg zu erschließen. Kindertageseinrichtungen müssen gezielte und qualifizierte Anregungen schaffen, um spezifizierte Bildungsprozesse bei Kindern zu ermöglichen. Pädagogische Konzepte sind zu entwickeln, die eine Persönlichkeit fördernde und selbst gestaltete Lebensführung unterstützen. Kinder sind dabei in ihrer Eigenschaft als selbst bestimmte und lernaktive Wesen zu begreifen. Kulturelle Bildung ermöglicht Zugang zur Sprache, zu den Künsten und zu ersten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Wichtig ist, dass die in der Kindertageseinrichtung freigelegten und eröffneten Potentiale in der Schule weiter aufgenommen werden. Der Deutsche Kulturrat fordert Länder und Kommunen auf, vielfältige und altersspezifische Angebote frühkindlicher kultureller Bildung zu unterbreiten, so dass Kinder verschiedene Erfahrungen machen können und vielfältige Anregungen erhalten.

 

Gewährleistung frühkindlicher Bildung in Kindertageseinrichtungen
Der Deutsche Kulturrat begrüßt die Bestrebungen der Bundesregierung, der Länder und Kommunen, bis 2013 das Angebot an Betreuungsplätzen in Kindertagesstätten und Tagespflege für bundesdurchschnittlich 35 Prozent der Kinder unter drei Jahre auszubauen.

 

Im OECD-Vergleich haben deutsche Kindertageseinrichtungen einen relativ schlechten Personalschlüssel. Die Verbesserung des Personalschlüssels ist insbesondere in Hinblick auf Sprachförderung und Vermittlung interkultureller Kompetenzen von großer Bedeutung. Für diese Tätigkeit muss neben der erzieherischen Arbeit im engeren Sinne in den Kindertageseinrichtungen auch ein angemessener Zeitschlüssel eingeplant werden.

 

Eine zentrale gesellschaftliche Herausforderung besteht darin, tatsächlich allen Kindern die Möglichkeit zu geben, frühkindliche Bildungsangeboten zu erfahren. Der Deutsche Kulturrat begrüßt, dass bereits in einigen Bundesländern das letzte Kindergartenjahr kostenlos angeboten wird. Um aber allen Kindern den Zugang zu frühkindlicher Bildung zu ermöglichen, fordert der Deutsche Kulturrat, Kindertagesstätten flächendeckend in ausreichender Anzahl und grundsätzlich entgeltfrei anzubieten. Dazu gehört auch, dass die Zusatzangebote der kulturellen Bildung in Kindertagesstätten als Teil gesellschaftlicher Grundbildung verstanden werden und demnach kostenfrei von allen Kindern wahrgenommen werden können. Der Deutsche Kulturrat fordert darüber hinaus Länder und Kommunen auf, neben den personellen und fachlichen Ressourcen auch eine ausreichende materielle und räumliche Ausstattung von Kindertageseinrichtungen und eine angemessene Angebotsqualität kultureller Bildung durch kompetentes Personal zu gewährleisten.

 

Aus- und Fortbildung der Erzieherinnen und Erzieher
Erzieherinnen und Erzieher leisten einen wichtigen Anteil bei frühkindlichen Bildungsprozessen. Umso wichtiger ist es, die Ausbildung für Erzieherinnen und Erzieher sowie Möglichkeiten der Fort- und Weiterbildung auf einen höheren professionellen Stand zu bringen. Zurzeit werden verschiedene Ansätze diskutiert. Während die einen eine Fachschulausbildung befürworten, plädieren die anderen für eine Fachhoch- oder Universitätsausbildung, weil sie auf die künftigen Herausforderungen der Erzieherinnen- und Erzieherarbeit besser vorbereiten. Die Ausbildung muss zum einen praxisorientiert sein, zum anderen aber auch den wachsenden theoretischen Ansprüchen an die Erzieherinnen und Erziehern Rechnung tragen. Erzieherinnen und Erzieher müssen erziehungswissenschaftlich und entwicklungspsychologisch so ausgebildet werden, dass sie Bildungsstand und -entwicklung der Kinder dokumentieren und individuellen Förderbedarf erkennen können. Daneben sollten alle Erzieherinnen und Erzieher während ihrer Ausbildung Wahlpflichtkurse in den ästhetisch-bildenden Fächern absolvieren, damit sie Fähigkeiten im Bereich der musikalischen Bildung, der bildnerischen Gestaltung, der darstellenden Kunst und des Tanzes erlangen und beherrschen, um diese auch vermitteln und weitergeben zu können.

 

Der Deutsche Kulturrat befürwortet die oben skizzierten Bildungsziele für den frühkindlichen Bereich, die sich an der Förderung individueller Potentiale orientieren. Um diese aber angemessen umsetzen zu können, fordert der Deutsche Kulturrat einen Stellenausbau für Erzieherinnen und Erzieher und die grundständige Einbeziehung der kulturellen Fächer in deren Ausbildung. Er begrüßt in diesem Zusammenhang die gemeinsame Fortbildungsinitiative des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung für 80.000 Erzieherinnen und Erzieher sowie für Tagesmütter und Tagesväter und empfiehlt, in dieser Fortbildungsinitiative einen Schwerpunkt „kulturelle Bildung“ zu setzen.

 

Freie Träger der kulturellen Kinder- und Jugendbildung
Alle Kinder, gleich welcher sozialen und ethnischen Herkunft, haben ein Recht auf kulturelle Bildung. Um möglichst alle Kinder an einer umfassenden frühkindlichen Bildung teilhaben zu lassen, sind nicht nur die Kindertagestätten, sondern auch die Träger der kulturellen Bildung wie Musikschulen, Jugendkunstschulen, Soziokulturelle Zentren, Bibliotheken, Theaterpädagogische Zentren u.a. aufgefordert, altersgerechte Angebote, ggf. auch mobiler Art, zu entwickeln und zu unterbreiten. Wichtig ist es, dass insbesondere die Eltern, die ihre Kinder nicht in eine Kindertageseinrichtungen schicken, dafür sensibilisiert und motiviert werden, ihre Kinder an frühkindlichen Bildungsangeboten partizipieren zu lassen. Umgekehrt müssen niederschwellige Zugangsmöglichkeiten geschaffen werden, so dass alle Kinder die Möglichkeit frühkindlicher Bildung erhalten.

 

Zusammenarbeit mit Trägern der kulturellen Kinder- und Jugendbildung
Der Deutsche Kulturrat fordert eine strukturierte Zusammenarbeit zwischen Kindertagesstätten und den Trägern der kulturellen Bildung. Damit wird die Vielfalt kultureller Bildungsangebote gefördert. Mit einer stärkeren Zusammenarbeit zwischen den Kindertageseinrichtungen und den Trägern der kulturellen Bildung, sollen auch die Familien erreicht werden, deren Kinder nicht eine Kindertagesstätte besuchen.
Es ist eine Herausforderung, der sich Länder, Kommunen, Kindertagesstätten sowie die Träger der kulturellen Bildung gleichermaßen stellen müssen, Kinder und Familien aus bildungsfernen Schichten mit ihren Angeboten zu erreichen und so frühkindliche Bildung als Grundbaustein für ein lebenslanges Lernen zu gewährleisten.


1 Diese Stellungnahmen des Deutschen Kulturrates sind: „Kulturelle Bildung im digitalen Zeitalter“, „Kulturelle Bildung – Eine Herausforderung durch den demografischen Wandel“, „Interkulturelle Bildung – eine Chance für unsere Gesellschaft“ sowie die Stellungnahme „Neue Medien: Eine Herausforderung für die kulturelle Bildung“.

 

2 Gemeinsamer Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen. Beschluss der Jugendministerkonferenz vom 13./14.05.2004 / Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 03./04.06.2004)


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