9. Dezember 2022 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kulturpolitischer Wochenreport

KW 49: Porentief rein: Reinheit und Unreinheit sind eine notwendige Divergenz


Themen im Newsletter:

  1. Porentief rein: Reinheit und Unreinheit sind eine notwendige Divergenz
  2. Alles sauber? Hygienekultur im Laufe der Zeit
  3. Sitzung des Ausschusses für Kultur und Medien am 14. Dezember
  4. Sprecherratssitzung des Deutschen Kulturrates
  5. documenta: Kunstfreiheit sichern und stärken, Strukturen verbessern
  6. Kunstfreiheit als Ausrede? Salonfähiger Antisemitismus und documenta 15
  7. Über jeden Verdacht erhaben? – Antisemitismus in Kunst und Kultur
  8. Kultur digital: Zwischen Open Access und Kommerz
  9. Einladung zum digitalen Salon am 17.1.23: Friedhof als Fokus von Kulturpolitik: Geht das?
  10. Text der Woche: „Japans Fremdheit und Nähe“ von Klaus-Dieter Lehmann

 


 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

was haben Hygiene und Kultur eigentlich miteinander zu tun? Geht es bei der Hygiene nicht um den Körper, um Gesundheit, den Schutz vor Erkrankungen, und bei der Kultur um die Künste sowie vielleicht – mit dem weiten Kulturbegriff der UNESCO – noch um die Art des Zusammenlebens?

 

Ich bin fest davon überzeugt, dass Hygiene und Kultur eng miteinander verbunden, wenn nicht gar aufeinander bezogen sind. Erst kürzlich wurde bekannt gegeben, dass in Israel bei einer Ausgrabung ein Läusekamm gefunden wurde, der auf einen Zeitraum von 1.700 Jahre vor Christus datiert wurde – also gut 3.700 Jahre alt ist. Das Besondere an diesem Kamm ist die Inschrift, im Übrigen der älteste erhaltene Satz in einer kanaaitischen Sprache. In dieser Inschrift wird formuliert, dass der Kamm Läuse in Bart und Haaren ausrotten möge. Der Kamm stammt wohl ursprünglich aus Ägypten – ein Verweis auf die engen Handelsbeziehungen in der Levante – in seiner Form unterscheidet er sich nur wenig von den heute verwendeten Läusekämmen. Der Kampf gegen Kopfläuse ist also ein jahrtausendealtes hygienisches Problem.

 

Reinheit ist nicht nur ein Begriff der Hygiene, es ist ein Begriff, der eng mit Kult, mit Kultus, mit Religion – letztlich mit Kultur verbunden ist.

 

Ein fester Bestandteil sehr vieler religiöser Rituale, egal ob mono- oder polytheistisch, ist die rituelle Reinigung – mit Wasser, mit Ölen, mit Rauch, mit Dampf. Die rituelle Reinigung dient zur Vorbereitung auf Ereignisse, Feste oder auch auf das Gebet. Sie bezieht sich auf Körper und Geist. Die Reinigung des Körpers bereitet die Reinigung des Geistes vor. Körper und Geist sind in den Ritualen eng miteinander verbunden. Den Gegensatz zur Reinheit bildet die Unreinheit, die sich je nach religiösem Kontext auf Berührungen, Kontakt mit unreinen Gegenständen oder Personen bzw. auf natürliche Vorgänge, wie z. B. Geburt oder Menstruation, bezieht.

 

Die Unterscheidung von rein und unrein in religiösen Kulten findet eine Entsprechung in der Kultur. Wenn etwa zwischen Schmutzliteratur und der »wahren« Literatur unterschieden wird, wenn manche Kunstformen, wie lange Zeit Pop- oder Rockmusik, Comics oder auch Computerspiele, in die »Schmuddelecke« gestellt werden. Noch schmutziger ist Pornografie in Wort, Bild oder Film. Bereits in der Sprache, in Worten wie »schmutzig«, »Schmuddelkunst« wird die Parallele zum natürlichen Dreck und Schmutz gezogen.

 

In der Kunst wird teils der Reinheit gehuldigt – so oft in religiösen oder religiös konnotierten Werken –, aber auch die Unreinheit, oder besser gesagt das Verderbte, gefeiert. Man denke etwa an die Walpurgisnacht in Goethes Faust, an Bilder von Hieronymus Bosch, an Filme von Pasolini und anderes mehr. Reinheit ist ohne Unreinheit nicht denkbar, beide sind aufeinander bezogen.

 

Hygiene, oder sagen wir besser Reinheit, hat noch weitere Implikationen. Die Lebensreformbewegung, die sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bildete, entwarf ein Gegenbild zum Leben in der Stadt, das mit Krankheit, Enge, sittlichem Verfall assoziiert wurde. Die Lebensreformer, zu denen so unterschiedliche Gruppierungen wie die Naturheilkundebewegung, die Kleidungsreformbewegung, aber auch Architekten und Stadtplaner gehörten, verschrieben sich einem »natürlichen« Leben, das als reiner und hygienischer galt als das verdorbene Großstadtleben. Der Weg zur Rassenhygiene während des Nationalsozialismus war für einige Lebensreformer nicht weit.

 

Hygiene hat im Kulturbereich in den letzten drei Jahren noch eine weitere Bedeutung erhalten. Die Coronapandemie hat dazu geführt, dass zum Schutz der Bevölkerung vor einer Ansteckung mit Covid-19 Kultureinrichtungen geschlossen wurden. Fragen nach der Belüftung von Kultureinrichtungen, nach Leitsystemen, die zu möglichst wenig Kontakten führen und nicht zuletzt nach Aufführungsformaten, die den Kontakt minimieren, wurden erstmals aufgeworfen und führten zu starken Veränderungen. So mancher Inszenierung und manchem Film sieht man die Coronabedingungen in dem Vermeiden von Berührungen an.

 

Die Coronapandemie hat auch einer der meistgebrauchten kulturellen Gesten in unserem Kulturkreis, dem Händeschütteln zur Begrüßung, zum Schutz vor der Übertragung von krankmachenden Viren ein zumindest zeitweises Ende beschert.

 

Egal ob in der Kunst, in der Religion oder ganz einfach beim Saubermachen, es gilt stets, das richtige Maß zwischen Reinheit und Unreinheit zu finden. Ich kann mir gerade die Kunst ohne die Abgründe, das Dreckige und Schmutzige nicht vorstellen. Sie wäre porentief rein, ganz ohne die Verderbnis, furchtbar langweilig. Insofern sind Reinheit und Unreinheit die notwendige Divergenz unseres Lebens.

 

Wir haben dem Thema „Alles sauber? Hygienekultur im Laufe der Zeit“ den Schwerpunkt in der aktuellen Politik & Kultur gewidmet.

 

Ihr

 

Olaf Zimmermann
Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates
twitter.com/olaf_zimmermann

 


 

2. Alles sauber? Hygienekultur im Laufe der Zeit

Aktueller Schwerpunkt in Politik & Kultur 12/22-1/23

 

Hygiene und Kultur – wie gehört beides zusammen, welche Bedeutung haben sie füreinander? Wie wird Hygiene z. B. in Kunst oder Werbung dargestellt? Welche Bedeutung hat Hygiene in der Religion? Wieso schimpfen wir mit Fäkalbegriffen? Antworten auf diese Fragen und andere mehr bietet der Schwerpunkt »Alles sauber? Hygienekultur im Laufe der Zeit«.

 

Lesen Sie hier alle Beiträge des Schwerpunktes:

 

 


 

3. Sitzung des Ausschusses für Kultur und Medien am 14. Dezember

 

Die 24. Sitzung des Ausschusses für Kultur und Medien findet statt am Mittwoch, dem 14. Dezember 2022 um ca. 14:45 Uhr (im Anschluss an die 23. Sitzung) statt.

 

Tagesordnungspunkt 1: Soziale Lage von Künstlerinnen und Künstlern

 

Fachgespräch mit:

 

  • Lisa Basten, ver.di
  • Cilgia Gadola, Bundesverband Freie Darstellende Künste – Projekt Systemcheck
  • Heinrich Schafmeister, Bundesverband Schauspiel
  • Katharina Uppenbrink, Initiative Urheberrecht
  • Olaf Zimmermann, Deutscher Kulturrat

 

Die Sitzung wird im Parlamentsfernsehen auf der Webseite des Bundestages live übertragen.

 


 

4. Sprecherratssitzung des Deutschen Kulturrates

 

Am Mittwoch, den 7. Dezember hat das höchste Gremium des Deutschen Kulturrates, der Sprecherrat, im Tagungszentrum Hotel Aquino in Berlin getagt. Sowohl eine Stellungnahme zum Humboldt Forum (Veröffentlichung in Kürze) als auch eine Stellungnahme zur Zukunft der docummenta wurden dabei einstimmig verabschiedet.

 

Der Sprecherrat ist das politische Organ des Deutschen Kulturrates. Er tagt mindestens viermal pro Jahr.

 


 

5. documenta: Kunstfreiheit sichern und stärken, Strukturen verbessern

Deutscher Kulturrat positioniert sich zur Zukunft der documenta

 

Der Deutsche Kulturrat, der Spitzenverband der Bundeskulturverbände, positioniert sich zur Zukunft der documenta und macht Vorschläge zur künftigen Struktur. Er enthält sich dabei einer inhaltlichen oder kunstkritischen Bewertung der im September dieses Jahres zu Ende gegangenen documenta 15 oder ihrer Vorgänger. Er unterstreicht, dass die letzten documenten Anlass für Diskussionen über strukturelle Defizite bieten.

 

  • Lesen Sie hier die Stellungnahme des Deutschen Kulturrates zur Zukunft der documenta: Kunstfreiheit sichern und stärken, Strukturen verbessern.

 


 

6. Kunstfreiheit als Ausrede? Salonfähiger Antisemitismus und documenta 15

 

Am 3. und 4. Dezember fand die Tagung „Kunstfreiheit als Ausrede? Salonfähiger Antisemitismus und documenta 15“ des Tikvah-Institutes und der Friedrich Neumann Stiftung in Berlin statt.

 

Unter anderem diskutierten die Schauspielerin Adriana Altaras, der bildende Künstler Leon Kahane, der Kunstkritiker Bernhard Schulz und ich mit dem Welt-Journalisten Frederik Schindler über „Antisemitismus und/oder Kunstfreiheit? Alternativen, Grenzen und Konflikte“.

 

Hier können Sie die Diskussion ab 1:17:15 nachsehen.

 

Mehr dazu: Lesen Sie hier auch die Beiträge im Schwerpunkt „Der Fall documenta fifteen – Macht die Postkolonialismusdebatte für Antisemitismus blind?“ aus Politik & Kultur 9/22.

 


 

7. Über jeden Verdacht erhaben? – Antisemitismus in Kunst und Kultur

 

Im Bayerischen Landtag wurde über Antisemitismus in Kunst und Kultur diskutiert. Einen Einblick in die Diskussion gibt Stefanie Witterauf in der Jüdischen Allgemeine. Hier geht es zum Beitrag in der Jüdischen Allgemeinen vom 08.12.2022.

 


 

8. Kultur digital: Zwischen Open Access und Kommerz

 

Der Eindruck in der digitalen Welt sei vieles kostenfrei verfestigte sich. Doch wie blicken Künstlerinnen und Künstler sowie Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft auf diese Entwicklung? Sie haben nichts zu verschenken, sondern leben vom Verkauf ihrer Werke. Welche gemeinsamen Interessen gibt es? Wo sind die Grenzen? Über diese Themen und mehr wurde am 6. Dezember bei der gemeinsamen Veranstaltung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und des Deutschen Kulturrates in Zusammenarbeit mit rbb24 Inforadio in der James-Simon-Galerie diskutiert.

 

Mit: Gero Dimter, Vizepräsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und stellvertretender Sprecher des Vorstands der Deutschen Digitalen Bibliothek, Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Christoph Deeg, Berater für Transformation in Kulturunternehmen, Lena Falkenhagen, Schriftstellerin und Vorsitzende des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Christian Humborg, Geschäftsführender Vorstand von Wikimedia Deutschland, Patricia Rahemipour, Direktorin des Instituts für Museumsforschung der Staatlichen Museen zu Berlin; Moderation: Harald Asel, rbb24

 

rbb24 Inforadio strahlt die Diskussion am 8. Januar 2023 aus.

 


 

9. Einladung zum digitalen Salon am 17.1.23: Friedhof als Fokus von Kulturpolitik: Geht das?

 

Unsere Friedhofskultur ist identitätsstiftender, integraler Bestandteil unseres gesamtgesellschaftlichen Kulturverständnisses ­– und findet dennoch kaum größere kulturpolitische Beachtung. Woran liegt das, und was muss sich ändern, damit auch Friedhöfe ­ähnlich wie Theater und Museen in den kulturpolitischen Fokus rücken? Darüber darf ich am 17.1.23 um 14.00 Uhr sprechen.

 

Hier anmelden.

 


 

10. Text der Woche: „Japans Fremdheit und Nähe“ von Klaus-Dieter Lehmann

 

Japan hat jetzt den Vorsitz im G7-Staatenverbund von Deutschland übernommen. Die Themen betreffen nicht nur die Weltwirtschaft, sondern auch die Sicherheit, die Bevölkerungsentwicklung, die Bildung und das Klima. Der G7-Gipfel wird im März 2023 in Hiroshima stattfinden, der Heimatstadt von Premierminister Fumio Kishida. Damit ist Japan als einziger asiatischer Staat in eine Wertegemeinschaft eingebunden, die sich zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Nachhaltigkeit und Menschenrechte bekennt – und die auch konkret an den Sanktionen gegenüber Russland aufgrund des Angriffskrieges gegen die Ukraine beteiligt ist. Das ist nicht selbstverständlich.

 

Klaus-Dieter Lehmann ist Kulturmittler. Er war Präsident des Goethe-Instituts und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sowie Generaldirektor der Deutschen Bibliothek.

 


Copyright: Alle Rechte bei Deutscher Kulturrat

Adresse: https://www.kulturrat.de/presse/kulturpolitischer-wochenreport/49-kw-2022-2/