Ludwig Greven - 26. Februar 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Vom Schweigen


Mehr Ruhe täte der Gesellschaft gut

Wer kennt das nicht: Man steigt in die Bahn oder den Bus, hat einen anstrengenden Tag vor oder hinter sich und möchte abschalten, seinen Gedanken nachhängen, lesen. Aber dann setzt oder stellt sich jemand neben einen, die oder der lauthals telefoniert. Man versucht nicht hinzuhören, aber es gelingt nicht. Ungewollt bekommt man das halbe Gespräch mit. Über ernste Dinge oder Nichtigkeiten, über den Streit mit einer Freundin, Liebeskummer, Probleme in der Arbeit, daheim, das Ziel der Fahrt, Neuerwerbungen. Einmal musste ich miterleben, wie ein Wichtigtuer in meinem Zugabteil einen Mitarbeiter am Telefon feuerte. Ich habe ihm gesagt, dass er ihm das bitte schön ins Gesicht sagen solle und dass mich sein Imponiergehabe nicht interessiere. Dann war Ruhe.

 

Kürzlich fuhr ich von Berlin nach Hamburg zurück. Hinter mir saß ein Mann, der die ganze Zeit laut in sein Handy sprach. Ich kam von einer Tagung der Initiative kulturelle Integration, an der der Deutsche Kulturrat führend beteiligt ist, über die Frage, wie in Zukunft der Shoah gedacht werden kann, wenn die letzten Überlebenden gestorben sind. Mark Dainow, Vizepräsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, hatte dort ein Grußwort gehalten. Mit leiser, stockender Stimme berichtete er, dass er erst vor nicht langer Zeit bei einem Besuch in Yad Vashem erfahren habe, dass allein von der Seite seines Vaters 58 Familienangehörige ermordet wurden. 58. In ganz Europa, nicht nur in Auschwitz. Was soll, was kann man da noch sagen? Nichts.

 

Zum 75. Jahrestag der Befreiung der wenigen Überlebenden in der größten Mordfabrik der Nazis durch die Rote Armee sind wieder viele Reden gehalten worden. Von unserem Bundespräsidenten, von anderen. Wichtige, bedeutende, nachdenkliche Worte. Aber auch überflüssige. Was kann zu diesem größten aller Verbrechen, dem Völkermord an den Juden Europas und an ihrer, unserer Kultur noch gesagt werden, was nicht schon Zehntausende Male gesagt worden ist? Dennoch ist das rituelle Gedenken notwendig, damit das, was damals im Namen von Großdeutschland Deutsche angerichtet haben, niemals vergessen wird. Das sind wir den Opfern und uns schuldig. Der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft.

 

Aber eigentlich konnte ich nach den wenigen Worten von Mark Dainow auf der Tagung schon nicht mehr richtig zuhören. Mein Vater war als Wehrmachtsoffizier 1944 in Polen, zu der Zeit, als der Warschauer Aufstand niedergeschlagen wurde und Tausende starben. Ob er daran beteiligt war, weiß ich nicht. Er hat nie über seine Kriegszeit gesprochen. Er hat darüber bis zuletzt geschwiegen, wie die meisten seiner Täter- und Mittätergeneration. Wie auch viele Überlebende. Ich führe manchmal ein inneres Zwiegespräch mit ihm. Aber ich bekomme keine Antworten.

 

Reden, wenn es nichts oder nichts mehr zu sagen gibt; schweigen, wenn es so viel zu sagen gäbe: Das ist der Zwiespalt. Unser Leben besteht heute, so habe ich bisweilen den Eindruck, nur noch aus bisweilen leerer Kommunikation. Wir sprechen und schreiben von früh bis spät. Schon vor dem Frühstück auf Facebook oder Twitter. Live, am Telefon, am Computer. Unterwegs auf WhatsApp, per SMS oder E-Mail. Bei der Arbeit. In der Freizeit. Mit der Partnerin, dem Partner, Freunden, Kollegen, Fremden. Nur selten mit uns selbst. Manche manchmal auch mit Gott. Oder, die Kehrseite: mit niemandem.

 

Das gesellschaftliche Gespräch jedoch kommt vor lauter Gerede und Geplapper zum Erliegen. Weil dazu vor allem auch Zuhören gehört. Und bisweilen Schweigen. Nachdenken kann man am besten, wenn Stille einkehrt. Wirkliche Verständigung ist nur möglich, wenn man dem Gesagten Raum und Zeit gibt nachzuhallen, zu wirken, sich zu entfalten. Stattdessen besprechen wir alles so lange, bis der Sinn der Worte verloren geht. Die erste Wahl eines Ministerpräsidenten in Deutschland seit 1945 mithilfe der Partei eines Faschisten, nur wenige Tage nach dem Gedenken an Auschwitz und die Shoah, ein historischer Tabubruch: Es blieb kaum Zeit zum Erschrecken, zum Innehalten, zum Besinnen. Was hat das zu bedeuten, welche Folgen kann das haben? Ist das rückgängig zu machen, wie die Kanzlerin sagt? Kann, wird es sich wiederholen? Aber es musste ja alles gleich analysiert und kommentiert werden, möglichst scharf oder möglichst relativierend, je nachdem. Worte, nichts als Worte.

 

Man kann nicht nicht kommunizieren, hat Paul Watzlawick gesagt. Auch Schweigen ist eine Form der Mitteilung. Aber eben eine andere als lautes Reden und Zutexten. Es kann Anteilnahme ausdrücken, Empathie, Mitgefühl, Nachdenklichkeit, Verbundenheit, Ratlosigkeit. Vieles, was Worte nicht vermögen. Reden ist viel. Nichtreden manchmal mehr.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2020.


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