Günter Winands - 29. November 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Verstärkte Provenienzforschung zum NS-Kunstraub


Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste schafft mit neuer Schriftenreihe "Provenire" Transparenz

Die Aufarbeitung des NS-Kunstraubes und vor allem die Auseinandersetzung mit den Schicksalen der überwiegend jüdischen Opfer sind unverändert gesamtgesellschaftliche Aufgaben von immenser Bedeutung. Das heutige Deutschland wird nicht zuletzt im Ausland daran gemessen, wie es mit diesem dunklen Kapitel auch der Kunstgeschichte umgeht.

 

Für die Bundesregierung ist die Transparenz von wissenschaftlichen Erkenntnissen ein wesentliches Anliegen bei der Umsetzung der Washingtoner Erklärung. Die neue Schriftenreihe „Provenire“ des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste (DZK) wird in diesem Sinne wirken können. Soeben ist der erste Band herausgekommen: „Provenienzforschung in deutschen Sammlungen – Einblicke in zehn Jahre Projektförderung“. Anfang nächsten Jahres erscheint der nächste Band, der die Provenienzforschung und Aufarbeitung des Gurlitt-Falles zum Gegenstand hat.

 

Die Washingtoner Konferenz über Holocaust-Vermögen, die vor über 20 Jahren, im Dezember 1998, stattfand, war ein entscheidender Wendepunkt bei der Aufarbeitung des durch das nationalsozialistische Deutschland verübten Kulturgutraubes. So wie der Holocaust mit der Ermordung von sechs Millionen Juden ein in der Geschichte unvergleichbarer Zivilisationsbruch war, so ist auch die Skrupellosigkeit der durch die nationalsozialistischen Machthaber organisierten Kunstraubzüge, denen vornehmlich das jüdische Bürgertum zum Opfer fiel, schier unfassbar und in der Kunstgeschichte beispielslos.

 

Beschämend ist aber letztlich auch, wie lange es gedauert hat, dass mit Washington eine wirkliche systematische Erforschung und Aufarbeitung des NS-Kulturgutraubes begonnen wurde.

 

Und erschreckend ist leider auch die dabei gewonnene Erkenntnis, dass viele in der Weimarer Zeit hoch angesehene Kunsthistoriker, Museumsleute und Kunsthändler später in einer Mischung aus ideologischer Verblendung, Karrierestreben, Willfährigkeit oder schlichter Bereicherungsabsicht zum Täter, Gehilfen oder Profiteur wurden – und nach 1945 oftmals wieder, ohne ein Wort des Bedauerns oder der Reue, wichtige Positionen in der Kunstwelt einnahmen, so, als sei dazwischen nichts gewesen.

 

Bei der Aufklärung des NS-Kulturgutraubes geht es darum, zum einen durch verstärkte Provenienzforschung die Herkunft von Werken zu klären und zum anderen entsprechend den Washingtoner Prinzipien mit den Opfern – bzw. heute fast ausnahmslos nur noch mit ihren Erben – eine gerechte und faire Lösung zu finden, wenn ein Werk als Raubkunst identifiziert wird.

 

Hinter diesen Anstrengungen steht vor allem aber auch die angemessene Würdigung der Opferbiografien, des Leids und des Unrechts, dem Verfolgte des NS-Regimes, insbesondere Menschen jüdischen Glaubens, unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft ausgesetzt waren. Die im ersten „Provenire“-Band wiedergegebenen Forschungsergebnisse tragen dazu bei, in ihnen spiegeln sich erschütternde – und vielfach vergessene – Verfolgungsschicksale.

 

Das DZK hat sich in kürzester Zeit im Bereich der Provenienzforschung etablieren können: Es ist heute ein wesentlicher Förderer dezentraler Erforschung bundesweit; es hilft Einrichtungen und Sammlungen, aktiv ihre Verantwortung wahrzunehmen, die aus der Pflicht zur Aufarbeitung des NS-Kulturgutraubes erwächst.

 

Die Mittel für die Förderung der Provenienzforschung wurden seitens der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien von ursprünglich einer Million Euro in 2008 auf inzwischen fast zehn Millionen Euro (2019) pro Jahr erhöht. Der Schwerpunkt dieses Engagements liegt und lag im Bereich der Aufarbeitung des NS-Raubes. Und dieses Engagement zeigt Wirkung: Das belegen zum einen die steigende Zahl von Restitutionen, zum anderen der massive Ausbau der Provenienzforschung in den letzten 20 Jahren. Der Bundeskulturbeauftragten ist es dabei zugleich wichtig, dass die großen, vom Bund mitgetragenen Kultureinrichtungen über eigene feste Stellen für Provenienzforscherinnen und -forscher verfügen – und die Länder und Kommunen dies ebenfalls so handhaben. So haben Bundeseinrichtungen mit den Bundeshaushalten der letzten Jahre eine beachtliche Zahl zusätzlicher Stellen für Provenienzforschung erhalten.

 

Der erste Band von „Provenire“ versammelt Material aus zehn Jahren Forschungsförderung und illustriert eindrucksvoll die Vielgestaltigkeit sowie Komplexität des Aufgabenfeldes der Forschung und der Umsetzung der Washingtoner Prinzipien mit dem Blick auf Opfer und Akteure des NS-Kulturgutraubes sowie auf Orte der Forschung. Es wird deutlich, welche Aufarbeitungsbemühungen gerade auch abseits öffentlich wahrgenommener Restitutionsfälle geleistet werden – und nicht zuletzt, mit welch großem Engagement Provenienzforscherinnen und -forscher, aber heute auch die meisten Museumsverantwortlichen und deren Träger die Aufgabe angehen. Die Bestandsaufnahme mit der Schilderung zu den Forschungsprojekten ist eine exemplarische Darstellung. Die vielfältigen Aufarbeitungsaktivitäten, die auch außerhalb der DZK-Förderung stattfinden, dürfen darüber nicht vergessen werden.

 

Deutschland befindet sich insgesamt auf einem guten Weg, was auch letztes Jahr bei der internationalen Konferenz zum 20. Jahrestag der Washingtoner Erklärung in Berlin von den ausländischen Gästen positiv gewürdigt wurde. Es ist jedoch klar: Die Aufarbeitung des nationalsozialistischen Kulturgutraubes bedarf weiterhin erheblicher Anstrengungen. Jedes einzelne Werk, dessen Provenienz geklärt und das vielleicht sogar restituiert werden kann, trägt zur Vervollständigung des immer noch lückenhaften Bildes der historischen Geschehnisse bei. Dieses Bild − wo immer möglich − zu ergänzen, das Wissen über totalitäre Herrschaft zu mehren und in der Aufarbeitung nicht nachzulassen, ist notwendiger denn je.

 

Die Schriftenreihe „Provenire“ ist eine wertvolle Bereicherung der wissenschaftlichen Arbeit zur Aufarbeitung des nationalsozialistischen Kunstraubes. Dabei sollte allerdings stets im Bewusstsein bleiben, dass alles wissenschaftliche Engagement dazu bestimmt sein muss, denjenigen zu dienen, die zu Recht erwarten, mit ihrem Anliegen verstanden und
gerecht und fair behandelt zu werden: den Opfern des nationalsozialistischen Kulturgutraubes und ihren Familien.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2019-01/2020.


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