Olaf Zimmermann & Gabriele Schulz - 1. Oktober 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Der Kulturbereich braucht schnell eine funktionierende Regierung: Sehr, sehr viel zu tun


Nein, die Bewältigung der Coronapandemie war nicht alles, was in der auslaufenden Wahlperiode auf der Bundesebene in der Kulturpolitik für das Inland geschehen ist. Kulturstaatsministerin Monika Grütters, aber auch die Abgeordneten des Deutschen Bundestages können auf eine ereignis- und arbeitsreiche 19. Wahlperiode zurückblicken. Auf einige ausgewählte Themen soll im Folgenden eingegangen werden.

 

Erinnern wir uns zurück: Im September 2017 wurde der 19. Deutsche Bundestag gewählt. Im März 2018 schlossen CDU, CSU und SPD ihre Koalitionsvereinbarung. Vorherige Bemühungen von CDU, CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen, eine sogenannte Jamaika-Koalition zu bilden, scheiterten an der FDP. Der Satz des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner – „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ – blieb an ihm hängen und wird sicherlich bei den anstehenden Koalitionsverhandlungen für die neue Regierung eine Rolle spielen.

 

Was hatte sich die Bundesregierung kulturpolitisch vorgenommen: Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern sollte verbessert werden, hierfür sollten die regelmäßigen Spitzengespräche der Kulturstaatsministerin mit den Kulturministerinnen und Kulturministern der Länder, ab 2019 den Vertreterinnen und Vertretern der Kulturministerkonferenz sowie den Vertretern der kommunalen Spitzenverbände dienen.

 

Die soziale und wirtschaftliche Lage der Künstlerinnen und Künstler sollte erneut in den Blick genommen und hierzu ein Bericht vorgestellt werden. Mit der Erstellung dieses Berichts wurde der Deutsche Kulturrat beauftragt, der ihn mit der Studie „Frauen und Männer im Kulturmarkt“ im Sommer 2020 vorlegte. Dieser Bericht kam genau zum richtigen Zeitpunkt, hatte die Coronapandemie doch anschaulich gemacht, wie prekär die Lage vieler Soloselbständiger im Kulturbereich ist und wie sehr sie auf jeden einzelnen Auftrag angewiesen sind. Die Daten der genannten Studie belegten einmal mehr, dass diese prekäre Situation schon lange besteht. Die Coronapandemie hat vielen zuvor vom Deutschen Kulturrat und anderen Verbänden erhobenen Forderungen nach besserer sozialer Absicherung deutliche Schubkraft verliehen.

 

Dazu gehört, dass die öffentliche Hand mit der angemessenen Vergütung von Soloselbständigen aus dem Kulturbereich mit gutem Beispiel vorangehen muss. Es gilt, dass Modelle entwickelt werden, wie Selbständige besser in die Arbeitslosenversicherung einbezogen werden können bzw. wie die Arbeitslosenversicherung weiterentwickelt werden kann, damit sie für Selbständige passfähiger wird.

 

Wieder einmal hatte diese Bundesregierung sich vorgenommen, Selbständige in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen, und wieder einmal wurde nichts daraus. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (2009-2013), Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (2013-2017) und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (2018-2021) sind mit diesem Großvorhaben gescheitert. Auf den letzten Metern der vergangenen Wahlperiode wurde, wie von uns gefordert, für Versicherte der Künstlersozialkasse eine Verbesserung erreicht, wenn sie neben der selbständigen künstlerischen Tätigkeit auch eine nichtkünstlerische Tätigkeit ausüben. Bis zum Jahr 2020 war es so, dass, wenn mit der nichtkünstlerischen Tätigkeit 5.400 Euro im Jahr verdient wurden, der Kranken- und Pflegeversicherungsschutz über die Künstlersozialversicherung erlosch, auch wenn das Einkommen aus künstlerischer Tätigkeit höher als das aus nichtkünstlerischer Tätigkeit war. Befristet auf das Jahr 2021, können nun bis 1.300 Euro im Monat aus nicht-künstlerischer selbständiger Tätigkeit verdient werden, ohne den Kranken- und Pflegeversicherungsschutz zu verlieren. Die nächste Bundesregierung steht vor der Aufgabe, hier eine dauerhafte Lösung zu etablieren.

 

Ein Dauerthema in der 19. Wahlperiode war die Reform des Urheberrechts. Zunächst auf der europäischen Ebene, wo 2019 mit der Verabschiedung der EU-Urheberrechtsrichtlinie die Weichen gestellt wurden. Dann stand die Umsetzung auf der nationalen Ebene an. Es galt, ein großes Gesetzesvorhaben ins Werk zu setzen, mit dem auf die Veränderungen in der Kunstproduktion, aber vor allem der Verbreitung und Nutzung von Kunst und Kultur reagiert wurde. Die Federführung lag beim Bundesjustizministerium, das sich in der Zivilgesellschaft unter anderem dadurch Freunde machte, dass vorzugsweise während der Sommerferien und mit kurzen Fristen zu den Vorhaben Stellung genommen werden konnte. In der 20. Wahlperiode steht zwar keine „Großreform“ an, das Thema wird aber nicht an Relevanz verlieren.

Eine große Reform, geradezu einen Umbruch, wollte der Wissenschaftsrat der Stiftung Preußischer Kulturbesitz verordnen. Er evaluierte im Auftrag der Kulturstaatsministerin die Stiftung, die in den letzten Jahrzehnten gewachsen, mit neuen Aufgaben betraut, aber nicht grundlegend neu strukturiert worden war. Für Aufsehen sorgten die Vorschläge nach der Herauslösung der Staatlichen Museen zu Berlin aus der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, auch war die Beteiligung der Länder infrage gestellt worden. Der Deutsche Kulturrat hat sich zur Reform deutlich positioniert. Nach dem Paukenschlag wurde in der Stiftung eine Reformkommission unter Beteiligung von vier Ländern  – Berlin, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt – eingesetzt. Der Stiftungsverbund bleibt bestehen, strukturelle Änderungen sollen aber für mehr Verantwortung der einzelnen Einheiten sorgen.

 

Der Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten schlug im Zusammenhang mit der nahenden Eröffnung des Humboldt Forums ab 2019 große Wellen. Klar ist, es ist ein Thema, das nicht allein den Bund betrifft. Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten befindet sich in vielen Museen der Länder, sicherlich auch in einigen Stadtmuseen und kirchlichen Einrichtungen. Der Deutsche Museumsbund hat mit seinem internen Diskussionsprozess, aus dem drei Leitfäden zum Umgang mit diesem Sammlungsgut entstanden sind, Maßstäbe für den innerverbandlichen Diskurs zu einem komplexen Thema gesetzt. Das Thema wird weiter virulent bleiben, zumal es sehr schön vor Augen führt, wie eng Kulturpolitik im In- und im Ausland verbunden ist. Der Deutsche Kulturrat hat dem Thema ein ganzes Buch gewidmet.

Und dann Corona: Seit März 2020 das Dauerthema in der Kulturpolitik. Es ging um Förderprogramme, um die Sicherung der kulturellen Infrastruktur, um Wirtschaftsförderung, um Öffnungsstrategien, um das Infektionsschutzgesetz und die Einreiseverordnung und vieles andere mehr. Mitunter konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Kulturpolitik nur noch aus Coronapolitik bestand. Trotz manchen Fehlschlags und Unzulänglichkeiten, im Großen und Ganzen ist der Kulturbereich in Deutschland im Vergleich zu Nachbarländern verhältnismäßig gut durch die Krise gekommen. In den „Corona-Chroniken“ des Deutschen Kulturrates erhält man auf knapp 500 Seiten einen ausführlichen Überblick.

 

Doch viele wichtige Aufgaben wurden in der letzten Legislaturperiode noch nicht erledigt, sie stehen deshalb in den nächsten Jahren an. Auf einige sozialpolitische Aspekte wurde bereits eingegangen. Das große Thema wird die Sicherung der Kulturfinanzierung nach der Pandemie sein, und zwar auf allen Ebenen: Kommunen, Länder und Bund.

 

Was plant nun wer, wenn eine Regierungsbildung ansteht? Der Deutsche Kulturrat hat die im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien nach ihren Vorhaben für die neue Wahlperiode gefragt. In der letzten Ausgabe von Politik & Kultur wurden die Ergebnisse vorgestellt. In der Wochenzeitung „Die Zeit“ haben im letzten Monat exponierte Vertreterinnen und Vertreter der SPD, der CDU und von Bündnis 90/Die Grünen ihre kulturpolitischen Vorhaben skizziert. Den ersten Aufschlag haben Kanzlerkandidat Olaf Scholz und der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda gemacht. Den größten Teil ihres Beitrags widmen sie der Frage, welchen Beitrag der Kulturbereich für die Gesellschaft im Sinne einer „great debate“, eines grundsätzlichen und tiefgreifenden Gespräches, leisten kann. Sie führen aus, dass die „intellektuelle und kreative Kraft der Kunst an den politischen Prozess“ herangetragen werden soll, um „den Schulterschluss zwischen Politik und Kultur, zwischen Macht und Geist“ im Wissen um die unterschiedlichen Rollen voranzubringen. Künstlerinnen und Künstlern wird ein kulturelles Bündnis angeboten. Hierfür soll direkt nach der Wahl ein bundesweites Kulturplenum zwischen Politik, Kunst und Zivilgesellschaft organisiert werden. Als konkrete Vorhaben werden weiter skizziert, dass Kommunen und Ländern geholfen werden soll, ihrer kulturpolitischen Verantwortung gerecht zu werden und dass es kein „neuerliches Kompetenzgerangel mit Ländern und Kommunen“ geben soll.

 

Kulturstaatsministerin Monika Grütters und der im Zukunftsteam von Armin Laschet für Kreativwirtschaft zuständige Joe Chialo haben auf Scholz und Brosda geantwortet. Sie schlagen einen neuen Gesellschaftsvertrag für Kultur vor. Hierin soll die Freiheit der Kultur, der Wert der Kultur für das Gemeinwesen und die Wertschätzung für Kreative ausgedrückt werden. Die Art der Zusammenarbeit mit den Verbänden und Organisationen aus dem Kulturbereich, wie sie sehr erfolgreich im Rahmen von Neustart Kultur erfolgt, soll dabei als Vorbild dienen. Es wird unterstrichen, dass die Verbände nah dran an den Bedürfnissen der verschiedenen Kultursparten sind. Es soll das Staatsziel Kultur im Grundgesetz verankert werden, die Verbesserung der sozialen Sicherung soll auf die Tagesordnung, die rechtlichen Rahmenbedingungen für Kulturunternehmen sollen überprüft werden, die Digitalisierung und Nachhaltigkeit im Kulturbereich gefördert werden.

Auf die Autorenteams Scholz/Brosda und Grütters/Chialo haben Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth und der kulturpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen Erhard Grundl geantwortet. Sie gehen mit der Kulturpolitik der Großen Koalition ins Gericht und konstatieren, dass strukturelle Probleme unbearbeitet blieben. Als Gegenmodell wird von Roth und Grundl entworfen, dass gendergerechte Mindesthonorare und eine Quote für Geschlechtergerechtigkeit auf allen Entscheidungsebenen staatlicher Kultureinrichtungen eingeführt werden sollen und dass gesellschaftliche Veränderungen stärker reflektiert und die Kultureinrichtungen sich vermehrt den Gruppen, die bislang noch nicht zum Publikum zählen, öffnen müssen. Ferner sehen sie die Aufgabe des Bundes, Kommunen und Länder stärker bei der Kulturförderung zu unterstützen. Die Kulturförderung soll strukturell erneuert und das Zuwendungsrecht reformiert werden. Nach Auffassung von Roth und Grundl muss mehr in die internationale und europäische Vernetzung investiert und den Einschränkungen von Meinungs- und Kunstfreiheit im Ausland energischer entgegengetreten werden. Darüber hinaus sehen sie z. B. die Rolle der Kulturpolitik als Möglichmacherin, die sich in die „Klima-, Umwelt-, Wirtschafts-, Städtebau-, Außen- und vor allem Sozialpolitik“ einbringt und eine verlässliche Partnerin der Künstlerinnen und Künstler und der Kultureinrichtungen ist.

 

Zum Redaktionsschluss dieses Beitrags am Abend des Wahlsonntags ist noch alles offen. Weder kann abgesehen werden, wie eine künftige Koalition aussehen wird, noch ist bekannt, wer künftig die Verantwortung für die Kulturpolitik auf der Bundesebene tragen wird. Wir hoffen sehr, dass die Koalitionsverhandlungen nicht wie nach der letzten Bundestagswahl Monate dauern, denn viele Aufgaben müssen angepackt werden. Wir haben keine Zeit zu warten, der Kulturbereich braucht schnell eine funktionierende Regierung.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.


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