Susanne Keuchel - 29. September 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Nicht mehr satisfaktionsfähig?


Cancel Culture statt Debatten auf Augenhöhe

Mit dieser Äußerung hast du uns diskreditiert! … Worte, die wenig Raum für eine argumentative Fortführung des Diskurses bieten. Verbale Äußerungen können heute zu einem gesellschaftlichen Ausschluss führen! Besonders schwer wiegt hier der Vorwurf der Diskreditierung spezifischer Personengruppen, vor allem solche, die innerhalb der Gesellschaft immer noch benachteiligt werden, wie Frauen, Transsexuelle oder von Rassismus Betroffene. Wenn sich beispielsweise der Kabarettist Dieter Nuhr in Äußerungen gegen die Fridays-for-Future-Bewegung und Greta Thunberg als „lächerlichen Personenkult“ wendet, zählen nicht mehr seine Argumente zum Klimawandel, sondern nur noch der konkrete Angriff auf die Person bzw. Gruppe. Eine Kontroverse, ein Austausch von Argumenten ist bei „Cancel Culture“ nicht intendiert, sondern der Kommunikationsabbruch, wie dies selbigem Kabarettisten bezogen auf eine andere Äußerung im Rahmen der Kampagne bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft ergangen ist, wo er die Relevanz von Wissenschaft betonte, jedoch gleichzeitig deutlich machte, dass Wissenschaft nicht alles wisse. Aufgrund heftiger Kritik in sozialen Medien wurde das Statement einfach gelöscht, statt sich inhaltlich mit der These auseinanderzusetzen. Andere „Cancel Culture“-Praktiken sind das Kündigen von Arbeitsverhältnissen, das Ausladen von Personen bei Veranstaltungen oder Hetzkampagnen in sozialen Medien. So wurde jüngst J.K. Rowling von Usern für „tot“ erklärt. Es sind jedoch nicht nur Künstlerinnen und Künstler, die mit Polemik, Fiktion oder Provokation spielen wie im Bereich fiktiver Literatur, Kabarett oder Karikatur, die hiervon betroffen sind. Es kann alle treffen, die sich in der Öffentlichkeit äußern. Selbst kulturelles Erbe kann „gecancelt“ werden, wie beispielsweise das Gedicht von Eugen Gomringer, das von den Mauern der Alice-Salomon-Universität getilgt wurde aufgrund des Vorwurfs des Seximus.

 

Ist damit etwas eingetreten, dem Liberalisierung eigentlich entgegenwirken wollte? Der Kampf um Freiheit von Meinung und kultureller Lebensgestaltung? Oder gibt es doch nur die „eine richtige“ Meinung?

 

Formen der Cancel Culture haben eine lange historische Tradition, beispielsweise „Damnatio memoriae“, das Austilgen des Andenkens einer Person. So wurden beispielsweise die Inschriften der Pharaonin Hatschepsut zerstört aufgrund des damaligen gesellschaftlichen Normbruchs, als Frau über Männer geherrscht zu haben.

 

Nicht zuletzt mit der Liberalisierung und hier vor allem der 68er-Bewegung wurde das Brechen gesellschaftlicher Normen jenseits konkreter Straftaten enttabuisiert, z. B. durch die Kommune I, die das Nacktsein und die sexuelle Freizügigkeit kultivierte.

 

Eine Folge der Liberalisierung war die Individualisierung, eine zunehmende Fragmentierung der Gesellschaft, das Bilden von Milieus mit eigenen Wertevorstellungen. Heute sind es nicht mehr spezifische Verhaltensweisen, unterschiedliche kulturelle Lebensstile, sondern verbale Äußerungen, die zu einem gesellschaftlichen Tabu werden.

 

Führt fehlender gesellschaftlicher Zusammenhalt aufgrund fehlender gemeinsamer Identitäten dazu, dass der Einzelne unsicherer, angreifbarer geworden ist in seinen Überzeugungen und Wertehaltungen? Ist es die Ohnmacht vor der Realität, die heute zwar unterschiedliche kulturelle Lebensstile, jedoch immer noch nicht eine diskriminierungsfreie Gesellschaft ermöglicht? Mutieren Werte so zu einem Dogma, das zum „Austilgen“ anderer Meinungen berechtigt? Worte können verletzen, Cancel Culture aber auch! Ein Unrecht rechtfertigt nicht das Begehen eines weiteren Unrechts. Könnten wir gesellschaftlicher Spaltung nicht besser entgegentreten, wenn Kontroversen künftig wieder beidseitig als argumentative Duelle auf Augenhöhe kultiviert werden?

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2020.


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