Johann Hinrich Claussen - 30. November 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Kultur versus Religion?


Jetzt keine unnötigen Konflikte ausfechten!

Gegen Kirchenkritik habe ich nichts einzuwenden, häufig versuche ich mich selbst darin. Doch vor Kurzem hat mich ein zorniger Protest wirklich verstört. Denn er kam aus einer Richtung, mit der ich jetzt gar nicht gerechnet hätte. Kaum hatte die Regierung die neuen Restriktionen zur Eindämmung der Corona-Pandemie beschlossen, forderten einige Journalisten, aber auch eine Schriftstellerin – und in ihrem Gefolge viele Freunde der kräftigen Meinungskundgabe in Kommentarspalten und sozialen Netzwerken –, dass die Kirchen sofort auf ihre Gottesdienste verzichten müsse. Alles andere wäre unsolidarisch und ungerecht.

 

Die zweite Welle der Pandemie versetzt viele Menschen in Angst, die Maßnahmen dagegen stoßen auf erhebliche Kritik. Das kann ich nachvollziehen. Dass gerade Kultureinrichtungen schließen müssen, tut mir und vielen in meiner Kirche weh. Wir sind ja auch selbst betroffen: Unsere gesamte Kultur- und Bildungsarbeit ist nicht mehr möglich. Dabei gehört sie zum Kern unseres Selbstverständnisses. Froh war ich immerhin zu lesen, dass wir zumindest Gottesdienste feiern können. Vor einem halben Jahr war es für uns andersherum: Wir durften keine Gottesdienste feiern, aber Bau- und Getränkemärkte waren offen. Damals hatten wir auf elementare Rechte verzichtet, um – nach damals bestem Wissen und Gewissen – unseren Beitrag zu leisten. Dafür haben wir jedoch heftige Kritik erfahren. Jetzt finden wir uns ohne eigenes Zutun auf der anderen Seite wieder: Wir bleiben offen, Kultureinrichtungen aber nicht. Wir feiern Gottesdienste und werden nun dafür kritisiert: Wie man es macht, macht man es falsch.

 

Ich habe diese neue Kritik als unfair empfunden. Befremdet hat mich vor allem eine semantische Verschiebung: Für mich ist Religionsfreiheit ein Menschen- und ein Grundrecht, für manche Kritiker aber ein „kirchliches Privileg“, das sich überlebt habe. Ist das nicht ein gefährliches „Framing“? Man macht aus einem Grundrecht ein Privileg für wenige seltsame Leute – z. B. Christen, also einen ungerechten Luxus, den man nach Belieben abschaffen kann oder vielleicht sogar muss? Was geschieht, wenn man andere Grundrechte einem solchen „Framing“ unterzieht?

 

Gegenwärtig erleben wir, wie bedroht die Religionsfreiheit ist. Wir sehen das in Deutschland besonders bei den bedrohten Synagogen. In Europa ist zudem eine deutliche Zunahme an Angriffen auf Kirchen zu beobachten, vor allem in Frankreich. Der islamistische Terrorakt in der Kathedrale von Nizza sollte nicht zu schnell vergessen werden. Das Recht, seine Religion frei – unter Einhaltung aller Hygieneregeln – auszuüben, ist ein Indikator für die Humanität einer Gesellschaft. Dazu gehört nicht nur der Gottesdienst im engeren Sinn, sondern genauso die Seelsorge, also der Zugang von Seelsorgerinnen und Seelsorgern zu Altenheimen, Krankenhäusern oder Behinderteneinrichtungen. Die Grundrechte – dazu gehören auch die Kunstfreiheit, die Versammlungsfreiheit – sind elementare Säulen unserer Verfassung, die sich verändern, aber ihre hohe Geltung nicht verlieren dürfen. Wir Kirchenleute dürfen uns auf dem Grundrecht der Religionsfreiheit allerdings nicht ausruhen. Wir müssen mit unserer Arbeit zeigen, warum es dieses Grundrecht gibt, z. B. durch unsere Seelsorge.

 

Sich selbst und andere zu stärken, ist eine zentrale Aufgabe der Gottesdienste gerade im Advent. Er wird ja ganz anders sein als in den vergangenen Jahren: stiller, ernster, vielleicht auch inniger. Er würde damit zurückkehren zu seinen Anfängen. Denn ursprünglich ist der Advent eine Zeit der Fokussierung und Konzentration, des Wartens, bis daraus irgendwann die Vorweihnachtszeit wurde, Wochen einer atemlosen Zerstreuung. Jetzt könnten unsere Adventsgottesdienste eine kostbare Gelegenheit sein, zur Besinnung zu kommen.

 

Zum Schluss: Der christliche Kult hat viel mehr mit Kultur zu tun, als manche meinen. Das zeigt sich gerade jetzt. Wir bemühen uns, den Künsten in unseren Gottesdiensten einen Ort zu bieten. Das ist kein Ersatz für ausgefallene Veranstaltungen, das lindert auch die wirtschaftliche Not nicht, selbst wenn wir angemessene Honorare zahlen. Aber ein wichtiges Zeichen der Verbundenheit ist es doch. Gerade jetzt sollten wir keine unnötigen Konflikte ausfechten. Vielmehr sollten wir – die Religionsgemeinschaften, die Künste, die Gesellschaft insgesamt – versuchen, diese Krise gemeinsam zu überwinden. Denn wir durchleben harte, und besonders für viele Künstlerinnen und Künstler schlimme Zeiten.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2020-01/2021.


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