Eva Högl - 26. Februar 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Keine Opfer zweiter Klasse


Den NS-Opfergruppen "Asoziale" und "Berufsverbrecher" wird endlich Anerkennung gezollt

Am 29. Januar 2020 hat der Deutsche Bundestag im Rahmen einer Gedenkstunde die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 75 Jahren gewürdigt. Zuvor hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer beeindruckenden Rede in Yad Vashem die besondere Verantwortung der Deutschen betont. Ohne dieses Erinnern, ohne Gedenken und Mahnen gibt es keine Zukunft.

 

Es ist von besonderer Bedeutung, dass wir die Erinnerung an die unvorstellbaren Morde, die menschenverachtenden Taten der Nationalsozialisten und an die Schicksale der Opfer aufrechterhalten und jungen Menschen zugänglich machen. Gerade in einer Zeit, in der Rechtsextremismus in unserem Land unverändert und immer wieder eine echte Gefahr ist, in der Jüdinnen und Juden angegriffen werden, in der Politikerinnen und Politiker bedroht werden und in den sozialen Medien Hass und Hetze kursiert, ist es wichtig, an die Schrecken des Nationalsozialismus zu erinnern und der Opfer zu gedenken.

 

Erinnerungskultur ist ein zentraler Bestandteil aktueller Kulturpolitik. Der von CDU/CSU und SPD im März 2018 geschlossene Koalitionsvertrag formuliert ein wichtiges Vorhaben: „Bisher weniger beachtete Opfergruppen des Nationalsozialismus wollen wir anerkennen und ihre Geschichte aufarbeiten.“ Dies betrifft vor allem Opfer, die als „Asozial“ und „Berufsverbrecher“ verfolgt wurden und die bis heute nicht wirklich als Opfer anerkannt wurden. Die Forschung geht von ungefähr 70.000 Menschen aus, die diesen Gruppen zugeordnet wurden und in den Konzentrationslagern inhaftiert waren. Im Gegensatz zu Menschen, die aufgrund ihrer Religion, Zugehörigkeit zu einer Minderheit, Rasse, Homosexualität oder politischen Einstellung verfolgt wurden, fanden diese beiden Gruppen bisher wenig öffentliche Beachtung. Dies liegt daran, dass diese Gruppen sehr heterogen sind und die Opfer und ihre Angehörigen sich schämten.

 

Bei den „Asozialen“ nutzten die Nationalsozialisten gängige Vorurteile gegenüber gesellschaftlichen Gruppen wie Obdachlosen, sozialbenachteiligten Menschen und Prostituierten. Auch Menschen ohne anerkannte Erwerbstätigkeit wurden als „Asoziale“ verfolgt. In den Konzentrationslagern mussten sie den „schwarzen Winkel“ auf ihrer Kleidung tragen. In den 1940er Jahren wurde der Begriff der „Asozialen“ stark ausgeweitet und die Nationalsozialisten nutzten diese Stigmatisierung, um Andersdenkende und missliebige Personen zu inhaftieren und zu ermorden.

 

Auch bei den „Berufsverbrechern“, die im Konzentrationslager den „grünen Winkel“ tragen mussten, kam es im Laufe der Jahre zu einer Begriffsausweitung. Zunächst wurden als „Berufsverbrecher“ Menschen bezeichnet, die mehr als dreimal zu Freiheitsstrafen von mindestens sechs Monaten verurteilt wurden. In der Regel handelte es sich um Eigentumsdelikte. Erwähnenswert ist, dass gegen sie zum Zeitpunkt der Inhaftierung kein Tatverdacht vorlag und die Strafen verbüßt waren. Ab 1942 wurden verurteilte Straftäterinnen und -täter aus den Justizvollzugsanstalten in die Konzentrationslager überstellt, wo sie als „Berufsverbrecher“ mit „grünem Winkel“ gekennzeichnet wurden.

 

Für die Menschen, die von den Nationalsozialisten als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ verfolgt wurden, setzte sich die Diskriminierung nach der nationalsozialistischen Terrorherrschaft fort. Sie hatten keine Opferverbände, sie fühlten sich schuldig, die Angehörigen waren verunsichert, der Start in ein neues Leben war vielfach schwierig. Erst Ende der 1980er Jahre gelang es, eine öffentliche Wahrnehmung für das Schicksal dieser Gruppen zu schaffen.

 

Mit der Debatte am 13. Februar 2020 im Deutschen Bundestag und dem Beschluss eines Antrages der Koalition ermöglicht das Parlament endlich die volle Anerkennung dieser Opfergruppen. Damit wird unmissverständlich klargestellt, dass kein Mensch zu Recht im Konzentrationslager war. Und dass es keine Opfer zweiter Klasse gibt.

 

Angestoßen wurden diese Entwicklung und Debatte maßgeblich von Frank Nonnenmacher, dessen Onkel im KZ Sachsenhausen als „Berufsverbrecher“ inhaftiert war. In seinem Appell vom April 2018 forderte Nonnenmacher das Parlament auf, für eine umfassende Anerkennung und Aufarbeitung der Geschichte von sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ zu sorgen, und gewann dafür viele wichtige Unterstützerinnen und Unterstützer. Ihm danke ich sehr herzlich für sein Engagement, seine Hartnäckigkeit und seine guten Vorschläge. Der beschlossene Antrag hat vier Schwerpunkte: Anerkennung, Aufarbeitung, Gedenken und Entschädigung. Die wissenschaftliche Aufarbeitung wird gefördert, die Forschungsergebnisse sollen einer breiten Öffentlichkeit durch eine modulare Wanderausstellung nahgebracht und Einzelschicksale sollen näher beleuchtet werden. Außerdem werden die beiden Opfergruppen in den Härterichtlinien zum Allgemeinen Kriegsfolgengesetz (AKG) aufgenommen.

 

Bedauerlich ist, dass es im Deutschen Bundestag nicht gelungen ist, sich auf einen gemeinsamen Antrag der fünf demokratischen Fraktionen zu verständigen. Das wäre ein gutes Signal gewesen! Wichtig ist es nun, diesen Beschluss mit Leben zu füllen. Im nächsten Bundeshaushalt müssen Mittel für die Forschung und die Wanderausstellung bereitgestellt werden. Und es wäre ein wichtiges Zeichen, wenn der Deutsche Bundestag eine Gedenkstunde zum 27. Januar den „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ widmet.

 

Auch im Stadtbild können weitere Orte des Gedenkens entstehen. Auf dem Berliner Alexanderplatz erinnern fünf Stolpersteine an Otto Bülow, Joachim Ebel, Paul Kobelt, Willi Kochannek und Karl Mielke. Sie wurden als „Asoziale“ im KZ Sachsenhausen inhaftiert und von den Nationalsozialisten ermordet. Diese fünf Steine stehen stellvertretend für eine ganze Opfergruppe. Damit wir die Opfer und ihr Leid nie vergessen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2020.


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