Johann Michael Möller - 26. November 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Keine guten Nachrichten aus Russland


Der Fall Memorial

Die Nachrichten, die aus Russland kommen, sind keine guten mehr. Doch was in diesen Tagen Memorial, der ältesten und größten Menschenrechtsorganisation des Landes widerfährt, übertrifft die schlimmsten Befürchtungen. Diesmal geht die russische Justiz, gehen die Hardliner im Kreml gegen eine Organisation vor, die als der große Antipode zur herrschenden Macht gilt; man kann es auch weniger pathetisch sagen: Memorial ist das Rückgrat der russischen Zivilgesellschaft. Umso mehr steht jetzt auf dem Spiel. 

 

Mit dem drohenden Ende der russischen Teile von Memorial International und dem Menschenrechtszentrum in Moskau würde nicht nur ein dringend notwendiger Schutzraum der Verfolgten und Bedrängten im Land verschwinden; die Verteidigung der Menschenrechte in der russländischen Föderation würde überhaupt eine entscheidende Schwächung erfahren. Mit Memorial, das sich jetzt vor den Gerichten verantworten muss, käme nicht zuletzt jene Ära der russischen Selbstbefreiung an ihr Ende, die einst in der Schlussphase der Sowjetunion im Zeichen von Perestroika begann. Michail Gorbatschow hat das mit großer Sorge erkannt. Auch sein politisches Erbe steht mit auf dem Spiel. Wenngleich er zu Anfang mit dieser neuen, unabhängigen Organisation nicht sehr viel anzufangen wusste, die da wie aus dem Nichts entstand.  

 

Zum ersten Mal in der sowjetischen Geschichte, so erinnert sich die Germanistin Irina Scherbakowa, die heute zu den großen Führungsfrauen von Memorial gehört, gab es plötzlich eine von Menschen gegründete reale Organisation, die mehr war als nur eine Attrappe, und die lange um ihre offizielle Anerkennung kämpfen musste, obwohl an ihrer Spitze ein so bekannter Name wie der des Friedensnobelpreisträgers Andrei Sacharow stand. Als Gorbatschow, so liest man in den Lebenserinnerungen von Irina Scherbakowa, am Grab von Sacharow dessen Witwe Elena Bonner gefragt habe, was er denn für sie tun könne, soll ihm diese geantwortet haben: Registrieren Sie Memorial! 

 

Mit Memorial, so notiert es einer der treuesten Chronisten jener Jahre, der Historiker Wolfgang Eichwede, sei etwas ganz Entscheidendes geschehen: Die sowjetische Gesellschaft, später die russländische, schuf sich ihr eigenes, von staatlichen Vorgaben unabhängiges Gedächtnis.“ Das ist der tiefere Grund, der den Fall Memorial so exemplarisch macht und der auch erklärt, warum sich das heutige Putin-Regime von Memorial so herausgefordert fühlt: Es geht um die Deutungshoheit über die eigene Geschichte. Darüber ist ein Krieg der Erinnerungen“ entbrannt. 

 

Dabei waren die Anfänge von Memorial ganz bescheiden, ganz menschlich gewesen. Man wollte an Stalins Verbrechen erinnern; wollte den Millionen Opfern wenigstens ihren Namen und ein Stück ihrer Würde zurückgeben; wollte Schicksale dem Vergessen entreißen, die man häufig nur noch in den Deportationslisten und Lagerverzeichnissen fand. Auf das große Morden folgte das große Schweigen. Millionen Namen hat Memorial heute verzeichnet und auch dieses gewaltige Archiv steht jetzt auf dem Spiel. 

Nie hätte sie gedacht, sagt Irina Scherbakowa, dass wir mit ansehen müssen, wie sich das Verhältnis zu Stalin“ wieder ändert, wie der Samen des Nationalstolzes und der nostalgischen Sehnsucht nach der sowjetischen Vergangenheit“ aufzugehen beginnt. Und sie zitiert eine bittere Erkenntnis des bekannten Dichters David Samojlow, dass es in der Geschichte Russlands keine Erleuchtung“ gebe; alle unsere Aufstände, notiert dieser am Ende der 1960er Jahre, seien hart und ohne Folge. 

 

Wir sitzen am Rande des Ilmparks. Die Weimarer Sonne scheint durch die Bäume. Irina Scherbakowa ist mit der Goethemedaille geehrt worden und sie erzählt von ihrer Liebe zu Deutschland, von ihrem Vater, dem in Stalingrad die Hand zerschossen wurde und der trotzdem gut von jenen deutschen Soldaten sprach, auf die er getroffen war; sie erwähnt ihre jüdische Familiengeschichte und beschreibt das normale Leben zu sowjetischen Zeiten. Scherbakowa war häufig in Weimar, hatte sich um die Aufarbeitung der Akten des Sonderlagers II gekümmert, das die sowjetischen Sieger nach der Befreiung Buchenwalds weiterbetrieben. Auch dass das Schicksal der Millionen sowjetischer Kriegsgefangener wieder in den Blick der Historiker geriet, hat ganz wesentlich mit der Arbeit von Memorial in Deutschland zu tun. Die deutsche und die russische Geschichte lässt sich selbst in ihren schrecklichsten Momenten nicht voneinander trennen. 

 

Memorial ist in den Jahren ihres Bestehens zu einer weltweit aktiven Menschenrechtsorganisation geworden mit internationalem Ansehen, was schon in der Person ihres Gründers Arseni Roginski angelegt war. Er galt bis zu seinem Tod als Emissär Russlands in der Welt, dem es unbegreiflich erschien, dass die neuen Machthaber im Kreml ausgerechnet unter Verweis auf das Gesetz über die ausländischen Agenten gegen Memorial zu Felde ziehen. Man kann sich kaum einen schrofferen Gegensatz vorstellen. Während Putin heute den Polen eine Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gibt, hatte Roginski die historische Verständigung beider Länder nach Kräften unterstützt. Aber dass sein Kampf um Erinnerung gegen kollektives Vergessen kaum die Oberfläche“ im Bewusstsein der russischen Gesellschaft erreicht hat, darüber hatte er keine Illusionen.  

 

Wir stehen in Deutschland ratlos vor dieser Entwicklung, auch weil sie uns doch ganz direkt betrifft. Der russische Kolumnist Maxim Trudoljubow glaubt sogar, dass den Machteliten im Kreml die Botschaft ins Ausland und besonders nach Deutschland wichtiger war als die Wirkung nach innen. Es wäre ja nicht das erste Mal, meint Trudoljubow, dass der Kreml als Reaktion auf den Druck von außen Jagd auf einen westlichen Agenten im eigenen Land veranstaltet. Das habe schon der Fall Nawalny gezeigt. Und doch gibt es da einen entscheidenden Unterschied: Memorial betrifft unsere eigene Geschichte, gehört zu unserem eigenen Erinnern dazu. Es geht nicht allein um Solidarität, sondern um Selbstachtung. Was in Russland geschieht, beschädigt auch uns. Im Osten erwacht die Geschichte, hat es 1989 geheißen. Damit waren auch wir gemeint. 

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2021-01/2022.


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