Ludwig Greven - 28. März 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Jeder/m/xy seine Schublade


Identität – das ist die Götz*in der Neuzeit

Niemand will mehr Teil der Gemeinschaft sein. Nur noch Vertreterin oder Vertreter ihrer bzw. seiner sehr individuellen Gruppe. Oder seiner selbst. Wieso bloß?

 

Ein Blick zurück: Bis zum Untergang des real existierenden Sozialismus war die Welt recht übersichtlich. Es gab links, rechts, oben, unten. Wer links war, fühlte mit denen, die unten waren, war ergo gegen „die da oben“ und wollte die Welt radikal verändern. Wer rechts war, wollte sie so lassen, wie sie war (vom Osten mal abgesehen), verteidigte das kapitalistische System, das die Linken beseitigen wollten, und die, die oben waren. Weil er bzw. sie hoffte, selbst irgendwann dorthin zu kommen. Das versprach ja die bundesrepublikanische, sozial gebändigte Marktwirtschaft.

 

Heute, wo der Kapitalismus selbst im kommunistischen China gesiegt hat und wo es in Deutschland den allermeisten im Vergleich zu anderen Ländern ziemlich gut geht, ist es merkwürdigerweise genau umgekehrt: Rechte schimpfen auf das System, das sie für links-grün-versifft halten, auf den entfesselten globalen Markt, der sie, statt aufsteigen zu lassen, mit Abstieg bedrohe, und besonders auf die Elite. Linke und Grüne hingegen finden den globalisierten Kapitalismus irgendwie schon in Ordnung, mit ihrem Job als Web-Designer und ihrem neuesten Handy, Netflix, sozialen Medien und sonstigen Konsum-Verlockungen aus dem Internet. Allesamt Erzeugnisse US-imperialistischer Suprakonzerne, welche ihre Vorväter einst schwerst bekämpften. Zur Gewissensberuhigung kombiniert mit veganer, laktose- und spaßfreier Lebensweise aus Biolandbau. Bei noch besser betuchten Öko-Bürgern mit einem Tesla.

 

Im Zuge dieses gesellschaftlichen wie politischen Rollenwechsels muss das verloren gegangen sein, was man früher marxistisch Klassenbewusstsein nannte, traditionalistisch die natürliche Ordnung der Dinge. Überhaupt spielt die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht oder Gruppe so gut wie keine Rolle mehr. Stattdessen dreht sich alles um Identitäten. Man könnte es auch Eitelkeiten nennen. Wobei die links lediglich an der Genderfrage, ethnischer und religiöser Angehörigkeit und sonstigen diversen Zuschreibungen festgemacht wird. Rechts an der Volkszugehörigkeit. In einem Fall also höchst parzelliert, im anderen absolut kollektivistisch. Obwohl das Kollektiv ja vordem Markenkern der Kommunisten war. Die Parzelle dagegen Inbegriff provinziellen Spießbürgertums; sie wird nun aber von der kosmopolitisch-urbanen Oberschicht beherrscht. Verwirrend.

 

Kürzlich las ich einen interessanten Beitrag eines Kulturschaffenden. Er schrieb, dass an deutschen Theatern die Rolle eines schwarzen Gemüse­händlers nicht mehr mit einem schwarz geschminkten weißen Schauspieler besetzt werden dürfe, weil es sonst einen Aufschrei der Zuschauer und Kritiker gäbe. Ob der Darsteller Gemüsehändler sei, spiele hingegen keine Rolle.

 

Das sagt viel aus über den heutigen öffentlichen Diskurs. Menschen werden in Schubladen gesteckt, ob sie wollen oder nicht. Männern wird generell abgesprochen, als Abgeordnete auch für Frauen Politik machen zu können. Folglich muss die gesetzliche Parität her. Am besten gleich auch für Schwule/Lesben/Transgender, Migranten, Behinderte, Junge. Nur für Arbeiter, Arbeitslose oder Demente verlangen die Verfechter absoluter Gleichstellung keine Quote. Warum eigentlich nicht? Schließlich gibt es weit mehr Arbeiter, Erwerbslose und geistig Verwirrte als z. B. Queer-Menschen – wobei das eine das andere nicht ausschließt. Und sie werden ebenfalls, wenn nicht noch mehr, diskriminiert. Aber hat schon jemand ein Extra-Klo für Angehörige der Unterschicht gefordert, damit sie nicht neben Reichen pinkeln müssen? Eben. Stattdessen sollen Hartz-IV-Empfänger sozial gepampert und dadurch obrigkeitlich ruhiggestellt werden.

 

Auf der anderen Seite tun die Völkischen, auch in der gemäßigteren Variante der CSU-Traditionalisten und sonstigen schwer Konservativen, so, als ob aus gleicher Blutszugehörigkeit und Hautfarbe automatisch gleiche Interessen und Gesinnungen resultierten. Dabei war Deutsch-Sein über Jahrhunderte gar keine nationale Definition, weil es keinen deutschen Nationalstaat gab bis 1871, sondern Ausdruck eines gemeinsamen kosmopolitischen Sprach- und Kulturverständnisses, das prinzipiell jedem Menschen offenstand. Also das strikte Gegenteil dessen, was Deutschland-den-Deutschen-Fans heute propagieren.

 

Noch größer wird die Verwirrung, wenn sich jemand dem identitären Schubladendenken entzieht oder er/sie/xy partout in keine Schublade passen will. Was ist z. B. mit einem, sagen wir, muslimischen Migranten, der selbst Rassist und zudem Frauenverächter ist, was es nicht so selten geben soll, der keinen deutschen (Zweit-)Pass, somit kein deutsches aktives und passives Wahlrecht will, weil er Erdogan oder Assad anhimmelt, und der auch sonst mit freiheitlichen Beglückungen wie Toleranz und gegenseitigem Respekt nichts am Hut hat? Oder einem Reichsbürger, der sich – wie ich es erlebt habe – selbst als „Schwuchtel aus der DDR“ outet und alle Muslime ausweisen und bis dahin ins KZ stecken will? Einem Schwarzen oder Juden, der sich in der AfD engagiert? Oder einer gehandicapten Transgender-Person mit Zuwanderungshintergrund? Bekommen die alle eine Mehrfachquote? Oder gar keine?

 

Die Beispiele mögen absurd wirken. Aber sie sind nicht absurder als die Absurditäten, welche die schrille Identitätsdebatte hervorbringt – von links wie rechts. Der Blick auf die Lebensrealität eines Großteils der Menschen, auf das Ganze: auf die Gesellschaft, auf das Verbindende geht dabei völlig verloren. Frauen/Schwule/Lesben/Transgender/Ausländer sind jedoch genauso von Klimawandel, Arbeitsplatzverlust durch die Digitalisierung oder dem höchst gefährlichen neuen Rüstungswettlauf der USA, Russlands und Chinas bedroht wie Männer/Heterosexuelle

/Einheimische.

 

Diskriminierungen jeder Art zu beseitigen ist wichtig. Aber die Lebensgrundlagen zu erhalten ist weit bedeutender. Deshalb freue ich mich, dass Schülerinnen und Schüler für die Rettung des Klimas auf die Straße gehen. Und hoffe, dass andere, gerne auch Ältere, die sich über sie mokieren, ihrem Beispiel folgen und für Frieden, für gerechten Welthandel, gegen Ausbeutung durch Onlinehändler, bei denen sie gerne bestellen, oder die erzkapitalistischen Daten-Monopolisten demonstrieren. Und dabei ihre iPhones verbrennen, zumindest abschalten. Angehörige jeden Geschlechts, jeden Bildungsgrades, jeder sozialen Schicht, Fleisch- und Sojaesser, Christen/Muslime/Juden/Hindus/Ungläubige, In- wie Ausländer, und alle irgendwo dazwischen: gemeinsam! Das wäre doch mal was Identitätsstiftendes.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2019.


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