Susanne Keuchel - 28. Juni 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Europäische Zukunftsperspektiven


Die Rolle der Zivilgesellschaft im EU-Narrativ

Die EU-Kommission setzte 2014 Arbeitsgruppen zur Entwicklung identitätsstiftender Narrative für Europa ein. Es entstand eine vierseitige Erklärung „Körper und Geist Europas“, die von „Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern“ verfasst wurde. „Werte wie Menschenwürde und Demokratie“, „Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ als in Europa historisch gewachsene Werte spielten in dieser Erklärung eine wichtige Rolle.

 

Europa kann stolz auf dieses kulturelle Erbe sein. Zugleich stellt sich die kritische Frage: Reicht ein rückwärtsgewandtes Narrativ aus, um Europa angesichts der rasanten gesellschaftlichen Transformationsprozesse im Zusammenhalt zu festigen? Prinzipien der Ökonomisierung, Globalisierung und Technokratisierung haben in den letzten Jahrzehnten Einfluss genommen auf alle gesellschaftlichen Lebensbereiche. Digitalisierung hat vieles ermöglicht, rüttelt aber zugleich an elementaren Lebensbereichen wie der Erwerbstätigkeit als Lebenssinn. Die mit diesen Phänomenen einhergehende Liberalisierung und Individualisierung bereichert die Gesellschaft mit einer Vielfalt an Lebensstilen, kann den Einzelnen jedoch auch belasten, im Sinne der Beck’schen Risikogesellschaft. Angesichts begrenzter Ressourcen, Spaltungseffekten innerhalb der Leistungsgesellschaft und der Erkenntnis, dass die Wettbewerbsspirale sich nicht endlos weiterdrehen lässt, werden Ökonomisierungskriterien als zentrale gesellschaftliche Steuerungsprinzipien aktuell immer häufiger infrage gestellt. Eine kritische Reflexion, wie der Wunsch einer Begrenzung kommerzieller Interessen und Plattformen, kann vor allem in Europa beobachtet werden. Normative Zielsetzungen statt technokratischer Prinzipien gewinnen wieder an Bedeutung. Ein weltweites Beispiel hierfür ist die UN-Nachhaltigkeitsagenda 2030, innerhalb derer sich die Staaten auf die Umsetzung von 17 normativen Zielen verständigt haben, beispielsweise soziale und globale Gerechtigkeit oder Maßnahmen gegen den Klimawandel.

 

Europa hat jahrtausendlange Erfahrung im Umgang mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen, von der Demokratie im Athen der Antike und der Römischen Republik, über die mittelalterlich-feudale Gesellschaft bis zur Bildung demokratischer Nationalstaaten, von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft bis hin zum Informationszeitalter. Seit der industriellen Revolution bestimmen ökonomische Prinzipien gesellschaftliches Handeln immer stärker in Europa. Mit der Nachhaltigkeitsagenda 2030 liegen alternative Zielvorgaben auf dem Tisch. Einigkeit herrscht darüber, dass es eines Umdenkens in der Gesellschaft bedarf. Es fehlt jedoch an konkreten Zukunftsvisionen. Für eine Korrektur bzw. Deregulierung von Ökonomisierungsprinzipien bedarf es eines Perspektivwechsels und starker gesellschaftlicher Kräfte. Kunst und Kultur können hierzu einen entscheidenden Beitrag leisten. Europa hat in der Vergangenheit bewiesen, dass es gesellschaftliche Transformationsprozesse anstoßen und eigene moralische Standpunkte beziehen kann.

 

Es bedarf daher zur Stärkung des europäischen Zusammenhalts möglicherweise kein rückwärts-, sondern ein vorwärtsgewandtes zukunftsorientiertes Narrativ, hier Europas Potenzial, neue Ideen zu entwickeln, wie unsere Gesellschaft künftig nachhaltiger gestaltet werden kann. Die Vision, dass Kunst, Kultur sowie eine starke, geeinte Zivilgesellschaft in Europa einen essenziellen Beitrag zur Bewältigung weltweiter Zukunftsaufgaben leisten kann, ist ein starkes Narrativ, das generationenübergreifend begeistern kann.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2019.


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