Ludwig Greven - 28. Juni 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Die Verhältnisse tanzen


Wohin führen die aktuellen Protestbewegungen wirklich?

So viel Bewegung, so viel Aufbruch war lange nicht. Die Europawahl und ihre Nachbeben haben die politischen Verhältnisse umgestülpt. Weniger in der EU, wo der befürchtete Durchmarsch der Rechtsnationalisten und -populisten zum Glück ausblieb, aber in Deutschland, dem größten und bislang stabilsten Mitgliedsland. Plötzlich ist auch hier nichts mehr, wie es vordem war: Die schon lange taumelnde, längst nicht mehr große Koalition krebst ihrem Ende entgegen, und mit ihr die schier endlose Kanzlerschaft von Angela Merkel. Die Bürger emanzipieren sich. Union und SPD, die seit 1949 dominierenden Parteien, stecken in einer tiefen, die Sozialdemokraten gar in einer Existenzkrise. Nicht anders als die meisten ihrer Schwesterparteien in anderen europäischen Staaten. Neue und nicht mehr ganz so neue Kräfte übernehmen die Führung: bei uns die AfD rechts, besonders im Osten, die Grünen in der ökobürgerlichen bis linken urbanen Mitte.

 

Angeheizt wird das auf beiden Seiten von mehr oder weniger diffusen Bewegungen. Interessanterweise letztlich gegen unterschiedliche Folgen derselben globalen Entwicklung: dem Ausbreiten eines raubtierhaften digitalen Kapitalismus nebst damit verbundenen weltweiten Konflikten und Raubbau an der Natur. All das treibt Menschen im globalen Süden zu Flucht und Migration in den Norden. Und es bedroht gleichzeitig die natürlichen, sozialen, politischen und kulturellen Grundlagen menschlichen Lebens und damit auch sein eigenes Überleben.

 

Die Antworten der beiden derzeit bestimmenden politischen Pole sind extrem verschieden: Rechts- wie Linkspopulisten sowie in ihrem Gefolge Kulturängstliche von den Pegidisten bis zu den Gelbwesten in Frankreich suchen Erlösung in Abschottung: Die böse Welt soll ausgesperrt werden. Das hat ungefähr so viel Rationalität wie kleine Kinder, die ihre Hände vor die Augen halten und glauben, andere könnten sie dann nicht mehr sehen. Die jungen Klimaschützer von „Fridays for Future“ und ihre Sympathisanten sind nicht weniger radikal. So wie die Rechten ihre ganze Wut-Kraft auf das Verteidigen des „einfachen Volkes“ gegen Fremde, Kosmopoliten und die verhasste Elite legen, so ordnen sie alles dem in ihren Augen einzigen, zentralen Ziel unter: die Erwärmung der Atmosphäre auf zwei Grad zu begrenzen. Koste es, was es wolle. Auch wenn das Erreichen des in Paris vereinbarten Ziels angesichts der realen Entwicklung in den Industrie- und Schwellenländern, des Versagens auch und gerade der deutschen Regierung und des kaum gebremsten weltweiten CO2-Ausstoßes immer unrealistischer wird, solange die ihn befeuernden Produktions- und Konsumverhältnisse sich nicht grundlegend ändern. Und zwar subito.

 

Aus ihnen resultiert die Kehrseite der Migrations- und Fluchtbewegung. Auch wichtige Rohstoffe für Smartphones, Computer und Elektroautos stammen aus armen unterentwickelten Ländern und werden dort unter zum Teil grauenhaften, menschenverachtenden Bedingungen wie Kinderarbeit gefördert. Um ihren Besitz und ihre Ausbeutung toben Kriege und Konflikte wie seit Jahrzehnten im Kongo oder nun zwischen den USA und China. Wer also ein neues teures iPhone kauft, um mit seiner Hilfe womöglich eine Online-Petition gegen Kinderarbeit oder die nächste Klimademo zu organisieren, trägt dazu bei – ob er/sie will oder nicht, dass sich das Klima aufheizt durch den notwendigen Strom, der nach wie vor überwiegend aus fossilen Brennstoffen gewonnen wird, dass Kinderarbeit am Leben gehalten wird und dass Menschen sich auf den Weg übers Meer machen.

 

Radikale Parolen sind im Angesicht der bedrohlich-rasanten Entwicklung berechtigt. Sie sind insbesondere das Vorrecht von Jungen, die sich noch nicht darum kümmern müssen, für Lösungswege Mehrheiten zu gewinnen und Kompromisse einzugehen. Doch wirkliche Politik beginnt erst danach. „Ein guter Mensch sein, ja, wer möchte das nicht gerne“, möchte man den Klimademonstranten und -campern mit Bertolt Brecht und Kurt Weill aus ihrer Dreigroschenoper zurufen. Allein: Die Verhältnisse, die sind nicht so.
Kevin Kühnert, der auch aus der eigenen Partei viel gescholtene Juso-Chef, hat die richtigen Fragen gestellt: Wollen wir, dass uns als Bürger und Weltgesellschaft eine Handvoll immer mächtigere ultrareiche Konzerne und ihre Lenker beherrschen, vornehmlich aus dem Silicon Valley und China, dem globalen Rivalen – ohne demokratische Kontrolle? Wer soll über den wichtigsten Rohstoff heute verfügen, unsere Daten? Über die Infrastruktur einschließlich Netz-Plattformen, über Grund und Boden und darauf erbaute Häuser und Wohnungen, die Städte, Wissen, Informationen, Musik, Filme, Bücher, Software und sonstige geistige, kulturelle, kreative Erzeugnisse? Die Natur?

 

Die Rettung unseres Planeten ist ohne Zweifel ein zentrales, überlebenswichtiges Thema. Der soziale Zusammenhalt und globale Gerechtigkeit sind es nicht minder. All das muss in Einklang gebracht werden. Das wird nicht gehen, ohne in irgendeiner Weise die Systemfrage zu stellen. Werden die Klimaschützer und die Grünen dazu bereit sein? Oder entpuppt sich ihr Protest letztlich als der von Wohlstandsbürgern und ihren Kindern und Enkeln, die zu Recht um ihr künftiges Wohlergehen mit Mülltrennung, Biogemüse und klimaneutralem Reisen und Fliegen, also mit guten Ökogewissen, bei ansonsten unverändertem Wachstum bangen? Ich fürchte es.

 

Schreiben Sie mir: ludwig_greven@web.de

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2019.


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